Bis in die Unendlichkeit …

… und noch viel weiter.

Dass eine animierte Filmfigur besonders tiefgründige Aussagen über die Unendlichkeit macht, würde man nicht erwarten. Ob nun Zufall oder nicht, „Buzz Lightyear“ trifft in Toy Story jedenfalls den Nagel auf den Kopf. Denn: Unendlich ist nicht gleich unendlich. Wenn einem unendlich auch schon sehr viel erscheint, so gibt es doch noch viel mehr.

So paradox dies zunächst klingen mag, so wichtig ist diese Erkenntnis für das Verständnis von Komplexität in unserer Welt. Deshalb werden die unterschiedlichen Arten der Unendlichkeit zu Beginn jeder Komplexitätstheorie-Vorlesung durchgenommen. In möglichst einfacher und hoffentlich verständlicher Form möchte ich diese Grundlagen hier vermitteln:

Die einfachste unendliche Menge, die man sich gut vorstellen kann, ist die Menge der natürlichen Zahlen ℕ: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 … . Man kann zählen, solange man will, man wird immer durch Addition von 1 eine nächst größere Zahl finden. Wäre man nicht beschränkt durch die Zeit, so könnte man ohne Weiteres alle natürlichen Zahlen aufzählen. Diese einfachste Art der Unendlichkeit nennt man abzählbar unendlich, weil man in aller Ruhe ein Zahl nach der anderen wie an einer Perlenschnur aufgereiht abzählen kann, und einem dabei keine Zahl entgeht. Diese unendliche, abzählbare Anzahl an natürlichen Zahlen werde ich im Folgenden mit dem Symbol ∞ bezeichnen1.

Nehmen wir an, wir fügen zu unserer Menge ℕ immer genau in der Mitte zwischen zwei natürlichen Zahlen eine weitere Zahl ein. Die Zählreihenfolge wäre dann: ½, 1, 1½, 2, 2½, 3, 3½, 4, … . Wir erhalten dadurch eine neue Menge, die ich als Menge M bezeichnen möchte. Vergleicht man die Anzahl der Zahlen in dem Intervall zwischen 0 und 10 (geschrieben [0, 10]) in der Menge ℕ und M, so sieht man, dass in ℕ 10 Zahlen im Intervall [0, 10] liegen, während in der Menge M doppelt so viele liegen, nämlich 20: Zu jeder natürlichen Zahl existiert genau eine weitere Zahl, die durch die Subtraktion von ½ entsteht. Verallgemeinert man die Beobachtung über das Intervall [0, 10], so könnte man sagen, dass die Menge M doppelt so viele Zahlen enthält wie die Menge ℕ. In der Mathematik nennt man die Anzahl der Elemente einer Menge deren Mächtigkeit. Die Mächtigkeit einer Menge ℕ schreibt man |ℕ|. Es gilt also: |M| = 2 × |ℕ| (M enthält doppelt so viele Zahlen wie ℕ). Da ich die Anzahl der natürlichen Zahlen (|ℕ|) als ∞ definiert habe, gilt: |M| = 2 × ∞ 2

Ist 2 × ∞ schon eine neue Form der Unendlichkeit? Erinnern wir uns an die Definition der Abzählbarkeit: Kann ich alle Zahlen wie an einer Perlenkette hintereinander reihen? Genau wie bei Menge ℕ ist auch bei Menge M die Antwort: Ja. Die Perlen erhöhen in M zwar ihren Wert langsamer (nur um ½ statt um 1), aber sie lassen sich alle schön nacheinander aufreihen. Würde Zeit keine Rolle spielen, so könnte man die Zahlen in M ebenso leicht aufzählen, wie die Zahlen in ℕ . Während man nämlich die Zahlen aus M abzählt, ordnet man ihnen ja eigentlich wieder eine natürliche Zahl zu: Der ½ die 1, der 1 die 2, usw.:

M → ℕ
½ → 1
1 → 2
1½ → 3
2 → 4
2½ → 5

Man beklebt die Perlen also einfach wieder mit den natürlichen Zahlen und hat damit gezeigt, dass man alle Perlen abzählen kann. Streng genommen gilt also: |M| = |ℕ| und damit 2 × ∞ = ∞ 3.

Was ist aber, wenn ich zwischen zwei aufeinander folgenden natürlichen Zahlen nicht endlich viel Zahlen einfüge, sondern (abzählbar) unendlich viele, wie es z.B. bei den rationalen Zahlen ℚ (Bruchzahlen) der Fall ist? Auch das ist für die Unendlichkeit noch nichts Außergewöhnliches, solange alle Bruchzahlen an einer Perlenkette aufgereiht werden können. Und dass das geht, hat der Mathematiker Georg Cantor im 19. Jahrhundert gezeigt, in dem er eine Aufzählanweisung für Brüche formuliert hat (sein Diagonalargument), nach der alle Brüche in eine strikte Reihenfolge gebracht und abgezählt werden können. Obwohl also zwischen je zwei natürlichen Zahl unendlich viele weitere Zahlen eingefügt werden, und es damit eigentlich ∞ × ∞ Bruchzahlen gibt (|ℚ|= ∞ × ∞), gilt aufgrund der Abzählbarkeit: |ℚ|= ∞. Die Menge aller Brüche ist also abzählbar unendlich und verkörpert daher keine von den natürlichen Zahlen unterscheidbare Unendlichkeit.

Nun will ich aber meine Leser nicht mehr weiter auf die Folter spannen, sondern das „noch viel weiter“ enthüllen: Was ist, wenn wir nicht nur in das Intervall zwischen zwei aufeinander folgenden natürlichen Zahlen (abzählbar) unendlich viele Zahlen einfügen, sondern wenn wir dies für jedes beliebig denkbare Intervall tun? Dann kann keine Aufzählanweisung mehr angegeben werden, nach der die Zahlen an einer Kette hintereinander aufgereiht werden könnten (zwischen zwei Zahlen der Kette würden stets weitere Zahlen liegen). Diese Eigenschaft gilt für die reellen Zahlen ℝ, die das gesamte Kontinuum des Zahlenstrahls abdecken. Da man die Zahlen der Menge ℝ nicht abzählen kann, spricht man von einer überabzählbar unendlichen Menge. Das bedeutet, dass es mehr reelle Zahlen als natürliche Zahlen gibt, oder in Mächtigkeiten ausgedrückt: |ℝ| > |ℕ|. Da wir bisher das Symbol ∞ als |ℕ| definiert haben, gilt nach dieser Definition:

|ℝ| > ∞

Wie kann es aber mehr als unendlich viele Zahlen geben? Kann es natürlich nicht. Ich habe nur ein Definitionsproblem heraufbeschwört, um zu zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob wir von abzählbarer Unendlichkeit sprechen, oder von überabzählbarer Unendlichkeit. Meine Gleichsetzung von ∞ mit der abzählbaren Unendlichkeit muss natürlich korrigiert werden, da das Symbol ja jede Form der Unendlichkeit repräsentieren soll.

Wie folgenreich dieser zunächst subtil erscheinende Unterschied zwischen den beiden Formen der Unendlichkeit ist, muss ich aufgrund der leider nur abzählbar unendlichen Geduld meiner Leser auf noch zu erscheinende Blogeinträge verschieben. Aber als Teil des christlichen Abendlandes möchte ich noch eine kleine Denksportaufgabe für diejenigen formulieren, die dann offensichtlich überabzählbar viel aufnehmen können: Bei der  Unendlichkeit der ewigen Verdammnis, handelt es sich da um eine abzählbare oder eine überabzählbare Unendlichkeit?


Fußnoten:

  1. Im Allgemeinen steht dieses Symbol nicht für eine bestimmte Form der Unendlichkeit. Der Anschaulichkeit halber wird an dieser Stelle aber ∞ als die Mächtigkeit der Menge der natürlichen Zahlen (also deren Anzahl) definiert: ∞ := |ℕ|
  2. Diese Gleichung darf nicht streng arithmetisch verstanden werden, da ∞ nicht für eine bestimmte Zahl steht und damit den arithmetischen Gesetzen nicht unterworfen werden kann.
  3. Diese Gleichung darf wiederum nicht streng arithmetisch verstanden werden, weil sonst ∞ das neutrale Element 0 sein müsste (2 × 0 = 0).
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28 Kommentare zu Bis in die Unendlichkeit …

  1. Christian sagt:

    Hallo Immanuel,
    ich bin kein großer Mathematiker, daher danke für die Einführung in eine theoretische Betrachtung des Begriffs „Unendlichkeit“. Einige Gedanken, die mir beim Nachdenken über deinen letzten Satz kam, möchte ich mit dir teilen: Du nimmst an, dass sich der biblische Begriff der Ewigkeit mit dem mathematischen Begriff der Unendlichkeit beschreiben lässt. Doch ist das überhaupt möglich? Ich gehe in meinen Überlegungen davon aus, dass Gott die Welt erschaffen hat. Dazu gehört elementar die Erschaffung von Raum und Zeit, die auf einander bezogen sind und unsere Realität, unser Zeitverständnis und unseren Begriff „Ereignis“ ausmachen. Ewigkeit verstehe ich so, dass dies einen Bereich außerhalb unserer Welt, außerhalb des geschaffenen Raum-Zeit-Kontinuums bedeutet. Hier komme ich persönlich an meine intellektuellen Grenzen. Wenn ich mich nach dem Tod außerhalb dieser geschaffenen Welt befinde, wie soll ich das beschreiben? Mir bleibt nur der Begriff der Ewigkeit. Von diesen Überlegungen ausgehend bezweifle ich, dass der Begriff „ewig“ mit dem mathematischen Begriff „unendlich“ ersetzt oder definiert werden kann. Klar, ich kann versuchen diesen Bereich außerhalb unserer Welt zu definieren. Mathematisch kann ich vieles beschreiben. Doch wie will ich ein System definieren (das System „Ewigkeit“ über das ich so wenig weiß? Ich weiß doch nur, dass es außerhalb unseres vierdimensionalen Systems liegt, es wahrscheinlich umfasst aber nicht von ihm in irgendeiner Form abhängig ist. Ich bin gespannt auf deine Gedanken dazu und die weiteren Entwicklungen in deinem Blog.
    Christian

  2. Jörg sagt:

    Ist es eigentlich so, dass zwei beliebige Intervalle reeller Zahlen „gleich“ „viele“ Zahlen enthalten? Denn ich könnte bei graphischer Darstellung zwei Geraden durch die jeweiligen Endpunkte ziehen und mithilfe des Schnittpunktes jeden Punkt des einen Kontinuums genau einem Punkt des anderen Kontinuums zuordnen.

  3. Immanuel sagt:

    Hallo Christian! Der biblische Begriff der Ewigkeit ist für mich zunächst etwas, was ich mit Platon gesprochen der Ideenwelt zuordnen würde (die sich dem direkten Erkenntniszugriff durch den Menschen entzieht). Oder mit 1. Korinther 8, 2 gesprochen:

    Wenn aber jemand meint, etwas erkannt zu haben, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll.

    Diese Ideenwelt würde ich übrigens mit der überabzählbaren Unendlichkeit in Verbindung bringen: Ich kann zwar einzelne Zahlen aus den reellen Zahlen nehmen und verstehen, aber schon die einfache Aufgabe, einen eindeutigen Nachfolger für eine bestimmte Zahl zu finden, muss scheitern (das Kontinuum schlägt zu).
    Insofern weiß ich mit meinen nur abzählbaren Erkenntniswerkzeugen eigentlich nichts darüber, in welchem Verhältnis die von mir erklärte mathematische Begrifflichkeit zum Ewigkeitsbegriff der Bibel steht (der ja dort auch nicht mathematisch präzise immer im selben Sinn verwendet wird, man also gar nicht unbedingt von dem einen Ewigkeitsbegriff sprechen kann).
    Mir scheint aber, dass die auf diesem Begriff aufbauende Lehre von Himmel und Hölle sowie der ewigen Verdammnis in einer so mathematisch präzisen Weise vom Christentum formuliert wird (abzählbar), dass eigentlich ein ebenso präzises Verständnis von der biblischen Idee der Ewigkeit zugrunde liegen müsste (die eigentlich überabzählbar ist).
    Da davon aber nicht auszugehen ist, befürchte ich, dass die Unschärfe der Erkenntnis bezüglich der Ewigkeit sich auch auf die darauf aufbauenden Lehren überträgt. An dieser Stelle hat das binäre Prinzip zugeschlagen, dass zu dem Trugschluss verleitet, man könne alle Probleme der Welt (auch überabzählbar mächtige) auf Nullen und Einsen (abzählbar mächtig) abbilden.
    Man könnte den Versuch, überabzählbare Dinge in abzählbare Korsette zu zwängen (also etwas Unaussprechliches auszusprechen), auch mit dem Essen von der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen in Verbindung bringen: Der Versuch, zu sein wie Gott (überabzählbar). Das binäre Prinzip hätte in diesem Sinne übrigens mit diesem Baum den Weg in die Welt gefunden, wie der Name schon sagt.

  4. Immanuel sagt:

    Ich denke, dass deine Vermutung richtig ist (vergleiche http://de.wikipedia.org/wiki/Kontinuum_%28Mathematik%29 ). Man nehme z.B. die einfache Funktion „y = 2 × x + 3“. Betrachtet man jetzt die Intervalle [1,2] und [5,7], so wird durch die Funktion jeder Punkt des Kontinuums zwischen 1 und 2 auf einen Punkt im Kontinuum zwischen 5 und 7 abgebildet und umgekehrt. Das kann man natürlich auch, wie du vorgeschlagen hast, graphisch interpretieren bzw. darstellen.

  5. Jörg sagt:

    Da wird für mich – ohne jetzt ausgiebig darüber nachgedacht zu haben, eher intuitiv fasziniert – die überabzählbare Unendlichkeit „amazing“. Denn das bedeutet ja, dass dieselbe Mächtigkeit, Unendlichkeit, in intuitiv völlig unterschiedlicher Form begegnet – obwohl das eine Intervall 1000x größer ist als das andere ist die Mächtigkeit doch dieselbe. Und obwohl überabzählbar unendlich „mehr“ ist als abzählbar unendlich, passt es doch scheinbar (denn bezogen auf die natürlichen Zahlen gibt es das folgende „zwischen“ nicht) zwischen „1“ und „2“ als die ersten beiden Repräsentanten der Abzählbarkeit.
    Vielleicht ist das Konzept „Zahl“, das für und aus diskreten Mengen gewonnen wurde, für die Beschreibung eines Kontinuums letztlich nicht sachgemäß (da nicht dafür und ausgehend davon gewonnen sondern übertragen) sondern eine (für gewisse Kontexte brauchbare) Abstraktion – ontologisch sind in einem Kontinuum zwar keine Punkte isolierbar, aber nur so können wir uns der Realität Kontinuum epistemologisch nähern

  6. Jörg sagt:

    Ich glaube nicht, dass 1Kor 8,2 im originalen Kontext das aussagt, was du es hier aussagen lässt. Selbst wenn man es aus dem Kontext reißt, wäre die Stoßrichtung aufgrund der Perfektform des ersten Verbes (Wenn jemand meint, ein Kenner bezüglich einer Sache zu sein/etwas schon völlig begriffen zu haben) eher, dass man für Korrektur seiner bisherigen Erkenntnis offen sein soll und nicht die Anzweiflung von Erkenntnismöglichkeit, auch transzendenter Dinge, an sich. Im Kontext scheint die Referenz aber eher die Einbildung auf eine besondere, gegenüber anderen Mitchristen vermeintlich auszeichnenden Erkenntnis einer Sache/Lehre/… gemeint (vgl. Mengeübersetzung) anstatt dass man seine Priorität auf die Liebe zu Gott richtet (V. 3). Erkenntnismöglichkeit und Erkenntnis, auch tiefgreifende Kenntnis (Kennersein, Perfektform) wird in der Bibel oft positiv ausgesagt, gerade auch auf Gott, dh die Transzendenz bezogen (zB 1Joh 4,16)

    Transzendenz (Ideenwelt, überabzählbare Unendlichkeit, Kontinuum …) kann genau dann und und nur in dem Maße sachgemäß erkannt werden, wenn und wie sie sich selbst sachgemäß in die Immanzenz übersetzt. In jedem anderen Fall und bei Verbreiterung der Ausgangsbasis ist nur fruchtlose Spekulation möglich. Deshalb ist Offenbarung, wie sie zB die Bibel für sich beansprucht, die Voraussetzung dafür, dass Menschen überhaupt sachgemäß von der Transzendenz, Gott, aber sogar auch der Wirklichkeit an sich (erkenntnisermöglichende, -leitende, -bestimmende Denkvoraussetzungen; für mich als Erkennenden ist auch der Baum mir gegenüber jenseits von mir (transzendent) und ich kann von mir aus nicht wissen, ob er wirklich ist oder ich es mir nur einbilde (Buddhismus)) denken und reden können. Das Christentum lehrt der Bibel folgend zusätzlich zu dieser Selbstübersetzung der Transzendenz in einen immanent-objektiven Gegenstand potenzieller Erkenntnis (Bibel) noch die subjektive Hilfe beim Erkenntnisprozess durch die Transzendenz (Heiliger Geist).
    Sachgemäßes Erkennen und Reden von Transzendentem (Ewigkeit, Hölle, Himmel) ist also möglich, sofern es Offenbarung zum Gegenstand hat. Da bei einer Übersetzung von Transzendentem in Imanentes mit Verlusten und Verfremdungen zu rechnen ist (man denke an den zweidimensionalen Schatten eines dreidimensionalen Körpers), dürfte das epistemologisch Zugängliche zwar immer nur eine Annäherung an die ontologische Ebene sein. Sofern man aber von der Kompetenz und Zuverlässigkeit des transzendnten Übersetzers ausgeht, ist diese Annäherung als die sachgemäß-möglichste allen menschlich-immanenten Spekulationen vorzuziehen und man kann davon ausgehen, dass sie inhaltlich hinreichend ist.

  7. Immanuel sagt:

    Wow! Meine ersten drei gewonnenen Kommentatoren sind ja wahre Juwelen. Ich freu mich riesig, Jörg, dass wir uns über den Weg gelaufen (oder besser gebloggt) sind. Mit reiner Wahrscheinlichkeitsrechnung (abzählbar unendlich) ist das vielleicht nicht mehr zu erklären.

    Ich will zunächst den Bogen zum Thema Unendlichkeit schlagen: Der Vorgang, ein analoges Signal abzutasten und zu digitalisieren, entspricht dem Vorgang, Transzendentes (Überabzählbares) in Nicht-Transzendentes (Abzählbares) zu übersetzen. Die eine Extremposition sagt aus, dass das kategorisch nicht funktioniert, was aber am Beispiel der Digitalisierung eigentlich widerlegt ist. Die andere Extremposition sagt, dass durch eine ausreichend gute Annäherung (hohe Abtastrate) das Digitalisierte mit dem Analogen gleichgesetzt werden kann. Das Beispiel von Audio-CDs zeigt z.B., dass wir durch moderne Digitalisierung wesentlich bessere Wiedergabe-Qualität erreichen, als mit analogen Methoden (zum Beispiel Musikkassette). In pragmatischer Sicht ist diese Position also gut vertretbar.

    Die Frage, die jedoch bleibt (und die wir im Moment ja wälzen), ob es eine wesensmäßige Annäherung von diskreten Werten an das Kontinuum gibt. Denn egal, wie hoch die Abtastrate ist, die nicht erfassten Zwischenräume werden nicht kleiner, sondern sind immer so groß wie das Ganze (wenn man die Mächtigkeit multiplizieren könnte, . Wenn ich also mit diskreten Werten ohne Ausdehnung ein Kontinuum mit Ausdehnung versuche zu erfassen, so wird mir vom Kontinuum im Bezug auf dessen Ausdehnung immer gleich viel entgehen, egal, ob ich mich aufs Äußerste bemühe oder den Versuch von Anfang an aufgebe.

    Deswegen verwende ich Bibelverse nur noch assoziativ, nicht deduktiv: Der Antwort auf die Frage, was der Text an sich objektiv aussagt, kann man sich zwar annähern, aber man wird damit nie fertig. Sobald man aber meint fertig zu sein, hätte man es gleich lassen können: Das Kontinuum Kontinuum sein zu lassen wäre besser, als das Kontinuum durch eine noch so gute Annäherung zu ersetzen. Unaussprechliches kann und sollte nicht ausgesprochen werden, weil sich sonst unaussprechlich Gutes durch den Missbrauch in ausgesprochen Böses verwandeln wird. Das ein Wissen über diese Erkenntnis im Judentum existiert, das dem Christentum fehlt, zeigt die Vorsicht der Juden, den Namen des Schöpfers auszusprechen.

    Wenn ich Bibelverse assoziativ verwende, so treffe ich nur eine Aussage über einen einzigen Punkt des Kontinuums: Nämlich in welchem Zusammenhang der Bibelvers mit meiner abzählbaren Erkenntnis steht. Und in meiner abzählbaren Erkenntnis kann ein und derselbe Bibelvers in abzählbar vielen Assoziationen eingebunden sein, wodurch auch eine Annäherung an das Kontinuum geschieht, ohne dass ich der Meinung bin, dass alle abzählbaren Bücher der Welt auf einen einzigen Bibelvers ausgerichtet, dessen Ausdehnung im Kontinuum erfassen könnten.

    Ich hoffe, ich konnte die Assoziation herausarbeiten, die sich bei mir mit 1. Korinther 8, 2 einstellt. Und dass es Verse gibt wie 1. Johannes 4, 16, die nach dem einfachen, wörtlichen Schriftsinn einen Widerspruch zu 1. Korinther 8, 2 darstellen, zeigt, dass für die Erkenntnis selbiges wie für die Unendlichkeit gilt: Es abzählbare und überabzählbare Erkenntnis. Und das lässt sich aus der einfachen Wörtlichnahme (Abzählbarkeit) nur sehr schwer herauslesen (das ist übrigens die Herkulesaufgabe und gleichzeitig riesige Chance unserer Unendlichkeitsreflexion).

  8. Immanuel sagt:

    Ich teile deine Faszination, Jörg. Du hattest den Teilchen-Welle-Dualismus des Lichts erwähnt. Ich würde sagen, unser Begriff der Zahl hat dazu eine 1:1-Entsprechung: Die Zahl ist zugleich mit und ohne Ausdehnung. In diskreten Betrachtungen ist sie ohne Ausdehnung, im Kontinuum ist sie mit Ausdehnung.

    Wir können damit für das Wort „Erkenntnis“ eine sehr präzise Definition abgeben: Der Punkt, an dem Diskretes und Kontinuierliches sich berühren und gemeinsam zu Tage treten, ohne dass ihre Unterschiedlichkeit aufgehoben wird.

    Dieses Prinzip ist (in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Bibel) auch auf die Liebe übertragbar: In dem Moment, wo zwischen zwei diskreten Personen eine ausreichende Annäherung stattgefunden hat, wird aus zweien eins, ohne dass die Zweiheit dadurch aufgehoben wird. Dass zwei Punkte, die zu einem kontinuierlichen Intervall verschmelzen, unendlich weitere Punkte in sich tragen, ist sicherlich kein Zufall.

  9. Roderich sagt:

    Hallo Immanuel,
    ich habe leider weder Mathematik noch Logik studiert. Spontan stelle ich mir aber die Frage, ob es so fruchtbar ist, ein philosophisches Problem so zu formalisieren, wenn man es doch leichter „in Prosa“ diskutieren koennte. De Facto wird sich jeder Deine Formel ansehen, versuchen, sie in Prosa zu uebersetzen, wird in Prosa darueber nachdenken, ob es stimmt, sich dann evtl. denken: „hm, das scheint zwar formal zu stimmen, aber es stimmt nicht mit der Realitaet ueberein wie ich sie sehe“, und dann versuchen, den Fehler in Deiner Formel zu finden, bzw. seine Antwort wieder in eine Formel zu uebersetzen. Ist das nicht ein Umweg? Ich denke, niemand wird sich mit einer Formel von etwas ueberzeugen lassen, was er sonst nicht glaubt, oder doch? (Das ist ja fast so, als wolltest Du den Sachverhalt, dass das „vierdimensionale“ (Gott) mit dem „drei-Dimensionalen“ (Mensch) kommuniziert, nun (als selber nur „drei-Dimensionaler“) versuchen, ins „zwei-Dimensionale“ (Formeln) zu uebersetzen und damit dann diese Frage zu klaeren / aufzuloesen? Wie soll das „zwei-Dimensionale“ eine Aussage ueber das Verhaeltnis vom vier-dimenionalen zum Drei-Dimensionalen machen koennen?
    Damit will ich nicht sagen, dass solche Formeln ganz sinnlos sind, ich finde es ja sehr interessant, und die Formeln haben in der Logik (ist ja auch ein Teilbereich der Philosophie) und in anderen Bereichen sicher ihre Berechtigung. Manche Gegenstaende / Sachverhalte / philosophische Fragen halte ich aber fuer zu schwer greifbar, um sie in solche „Formeln“ zu giessen; Dinge, die sehr „umfassend“ sind, sind schwer zu greifen, und man weiss nie, ob man nicht Aspekte in solchen Formeln ausgelassen hat.

    Inhaltlich ein kleiner Beitrag: (Sorry, nur in Prosa 🙂 ): was Du sagst, naemlich: „Unaussprechliches kann und sollte nicht ausgesprochen werden, weil sich sonst unaussprechlich Gutes durch den Missbrauch in ausgesprochen Böses verwandeln wird.“, erinnert mich ein wenig an die Einleitung eines Buches von Alvin Plantinga „Warranted Christian Belief“, in dem Plantinga versucht darzulegen, warum der christliche Glaube rational begruendbar ist. Ich finde das, was ich von dem Buch gelesen habe, bisher sehr gut.
    Das Buch steht auch online. http://www.ccel.org/ccel/plantinga/warrant3.iv.i.i.html
    Hier also der Abschnitt:
    Now Christians also take it for granted that God is infinite, transcendent, and ultimate (however, precisely, we gloss those terms). And just here is the alleged problem. It seems many theologians and others believe that there is real difficulty with the idea that our concepts could apply to God—that is, could apply to a being with the properties of being infinite, transcendent, and ultimate. The idea is that if there is such a being, we couldn’t speak about it, couldn’t think and talk about it, couldn’t ascribe properties to it. If that is true, however, then, strictly speaking, Christian belief, at least as the Christian understands it, is impossible. For Christians believe that there is an infinite, transcendent, ultimate being about whom they hold beliefs; but if our concepts cannot apply to a being of that sort, then there cannot be beliefs about a being of that sort. This idea often sees the light of publication; it is even more heavily present in the oral tradition. In the spirit of interdisciplinary ecumenism, therefore, I want to begin by looking into this question.
    Consider, for example, the theologian Gordon Kaufman: „The central problem of theological discourse, not shared with any other “language game” is the meaning of the term “God.” “God” raises special problems of meaning because it is a noun which by definition refers to a reality transcendent of, and thus not locatable within, experience.“

    … is the claim in question—that our concepts do not apply to God—a coherent one? …
    Initially, the answer seems to be no; one who makes the claim seems to set up a certain subject for predication—God—and then declare that our concepts do not apply to this being. But if this is so, then, presumably, at least one of our concepts—being such that our concepts don’t apply to it—does apply to this being. Either those who attempt to make this claim succeed in making an assertion or not. If they don’t succeed, we have nothing to consider; if they do, however, they appear to be predicating a property of a being they have referred to, in which case at least some of our concepts do apply to it, contrary to the claim they make. So if they succeed in making a claim, they make a false claim.

    Soweit Plantinga. Das ist natuerlich nur der Anfang der Diskussion, das ganze wird dann ausfuehrlich besprochen. Fuer den, der sich philosophisch naeher mit dem Thema auseiandersetzen will, ist es sicher sehr lohnend.

  10. Jörg sagt:

    Ich hatte in meiner vorherigen Mail nach Transzendenz einige Begriffe wie überabzählbar unendlich in Klammer gesetzt, da mir mutatis mutandis einiges der Ausführungen auch darauf jeweils anzuwenden zu sein schien. Ich möchte klarstellen, dass damit keine Austauschbarkeit dieser Begriffe gemeint habe. Insbesondere besteht ein kategorialer Unterschied zwischen Transzendenz (Gott/Schöpfer, im Unterschied zur Welt/Schöpfung) und allem anderen (Kontinuum, Überabzählbarkeit sind Elemente des menschlichen Denkens (Abstraktionsbegriffe), in jedem Fall aber Teile der Welt/Schöpfung und damit immanent)

    Zudem kommen den Begriffen Kontinuum und überabzählbarer Unendlichkeit meiner Meinung nach kein ontologischer Gehalt zu – es sind Abstraktionen des menschlichen Geistes, Hilfshypothesen, zur epistemologischen Annäherung an die Wirklichkeit. Wenn mein kleiner Sohn unter dem Tisch aufsteht, dann ist die Tischkante im wahrsten (und ursprünglichen) Sinne des Wortes begreifbar, sie ist wirklich, auch wenn ich innerhalb der Welt der mathematischen Abstraktion sagen müsste, dass es diese scheinbar klar abgegrenzte Tischkante letztlich nicht gibt, da sich da irgendwo und überhall ein Kontinuum von überabzählbarer Mächtigkeit verbirgt. Die Physik stößt zwar in immer kleinere Dimensionen vor, dennoch aber kommen als Resultat immer irgendwelche (aktuell) kleinsten Teilchen raus (eventuell kann man sie nicht genau dingfest machen, Unschärferelation), kein Kontinuum im mathematischen Sinne. Aber selbst wenn es ein solches Kontinuum gäbe, wenn die Wirklichkeit so verfasst wäre, wäre es uns nicht möglich, dies zu erkennen aufgrund unserer Beschränktheiten, sodass ein solches Kontinuum in den Bereich der Spekulation (und damit Zeitvergeudung) gehört.

    Ich bin skeptisch, dass die Zweckentfremdung der Abstraktionsbegriffe Kontinuum, Diskret, Überabzählbarkeit zu einer sachgemäßen rationalen Rekonstruktion von Fragen bezüglich der Transzendenz führt. Soweit ich im Moment sehe, dreht sich dieser Blog bis jetzt um die Findung von Mitteln und Methoden zur rationalen Rekonstruktion. Das ist aber ein nachgeordneter Schritt – zuerst sollte man sich Gedanken über den Gegenstand machen: was will ich rational rekonstruieren? Wie ist mir dieser Gegenstand zugänglich? Welche Methoden sind diesem Gegenstand sachgemäß?
    Jede Zeit und jeder Mensch betritt den Garten der rationalen Rekonstruktion nicht als unbeschriebenes Blatt und muss sich dessen bedienen, was schon auf es geschrieben ist. Es ist aber notwendig, das Mitgebrachte auf Denkvoraussetzungen und Implikationen zu untersuchen. Zuträglich für das Bewusstwerden solcher Denkvoraussetzungen ist der intersubjektive Austausch. Zentral ist jedoch das Aussetzen gegenüber der Widerständigkeit des Gegenstandes – sonst begibt man sich in etwas, was ich ein geschlossenes System nennen würde gegenüber einem offenen, dass sich nämlich durch die Wirklichkeit korrigieren lassen will.
    Das Grundproblem, dass ich bei den Werkzeugen der formalen Systeme und der Mathematik im besonderen sehe, ist, dass diese nur mit einem hohen Maß an Abstraktion funktionieren, die Wirklichkeit aber das Gegenteil von Abstraktion ist.

    Deine Frage, ob es eine wesensmäßige Annäherung von Diskret und Kontinuum gibt, könnte nicht sinnvoll sein, insofern beide per Definitionem wesensmäßig unterschiedlich sind. Allerdings beruht diese Definition auf Abstraktion (epistemologische Ebene). Meiner Meinung nach spricht jedoch einiges dafür, dass der Unterschied in Wirklichkeit (ontologische Ebene) jedoch nur ein gradueller ist. Ebenso gibt es auf der epistemologischen Ebene – der Ebene, auf der sachgemäße Wissenschaft fungiert und funktioniert – einen Unterschied zwischen dem einmaligen Ereignis, das herkömmlich Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist, und dem Wiederholbaren, Mehrmaligen oder rein Denkerischen (ausgehend von Denkvoraussetzungen), das herkömmlich Gegenstand der Naturwissenschaft und Mathematik ist. Ontologisch basieren jedoch alle diese auf einmaligen historischen Ereignissen, von deren Einmaligkeit jedoch außerhalb der Geschichtswissenschaft abstrahiert wird zur Genese eines neuen spezifischen Gegenstands. Deshalb ist der Unterschied in der „Qualität“ der jeweils daraus gewonnenen Wahrheit auch ein gradueller und nicht, wie vielfach behauptet, ein wesensmäßiger.

    Zur wesensmäßiger Annäherung von Transzendenz und Immanenz. Der Begriff des Wesens oder der Verfassheit einer Sache bezeichnet die dauernde Seinsweise der Sache. Da Sachen komplex sein können, kann ein sachgemäßer Wesensbegriff nicht monadisch sein sondern muss die Konstituierungsmöglichkeit durch mehr als ein Wesensmerkmal beinhalten. Folglich ist zu unterscheiden zwischen einer vollständigen „Annäherung“ des Wesen in Form der Übernahme aller Wesensmerkmale und den verschiedenen möglichen partiellen Annäherungen. Eine partielle Annäherung von Transzendemz zu Immanenz liegt vor, wenn ein an sich nur der Transzendenz zukommendes Merkmal (wie z.B. Unsterblichkeit nach 1Tim 6,16) der Immanenz beigelegt wird (Gott ermöglicht und erhält seinem Geschöpf ewiges Leben). Dadurch wird die Immanenz nicht zur Transzendenz, da die Merkmalskombination der Transzendemz nicht vorliegt und die Transzendenzmerkmale für die Immanenz sekundär sind.

    Darüberhinaus ist aber auch eine Annäherung von Transzendenz und Immanenz auf der epistemologischen Ebene möglich. Denn die ein Wesen konstituierenden Merkmale lassen sich mittels natürlicher Sprache als Text (funktional-linguistische Basiseinheit) beschreiben (Begriffsbildung und -kommunikation). Dies gilt auch für Wesensmerkmale transzendenter Größen, die allerdings natürlich ursprünglich nur von einem transzendenten Standpunkt aus begriffen und beschrieben werden können.

    Allerdings darf solche Information über das Wesen einer Sache nicht mit der Sache selbst verwechselt werden – Informationen über den Baum vor meinem Fenster ist nicht der Baum selbst!

    Daraus folgt christlich-theologisch gesprochen, dass zwischen Bibel, selbst (und gerade) wenn man sie als Wort Gottes und damit z.B. Information über und aus der Transzendenz versteht, und Gott klar zu unterscheiden ist. In den Bildern der von dir favorisierten Fachsprache gesprochen: Auch wenn die Bibel vom Kontinuum berichtet, stellt sie noch lange nicht Kontinuum dar. Die Bibel ist vielmehr zunächst, so wie sie jedem Menschen gegenüber tritt, einfach Text, so wie deine und meine Einträge auch Text sind, und folglich ist an sie prinzipiell mit den gleichen Methoden heranzutreten wie an jeden Text. Kommunikation geschieht, um verstanden zu werden, und sie geschieht, weil im Sinne des Senders korrektes Verständnis in der persönlichen und kollektiven Menschheitsgeschichte in einem hinreichenden Ausmaße als möglich und normal erlebt wurde. Das Mittel zur Kommunikation ist Text und folglich ist korrektes Verständnis von Texten möglich und der Normalfall – alle gegenteiligen Behauptungen zeugen von sprachwissenschaftlicher Unkenntnis und argumenativer Inkonsistenz, denn sie setzen voraus, in ihrer textlichen Form verstanden zu werden. Da bilden die biblischen Texte keine Ausnahme, auch wenn die historisch-kulturelle Kluft natürlich in der Praxis manches erschwert. Insbesondere ist ein Text Sprache und folglich per Definitionem aussprechlich und für das Aussprechen konzipiert – deine Charakterisierung als „Unaussprechliches“ und die Schlussfolgerung widersprechen folglich dem Wesen der Sache, von der fehlenden Begründung der behaupteten Verwandlung bei „Missbrauch“ ganz zu schweigen. Die Vermeidung des Gottesnamens im Judentum ist übrigens eine späte (nach Abfassung der biblischen Schriften) sekundäre Erfindung aufgrund einer unsachgemäßen Auslegung von 2Mose 20,7 (schon der Vers allein setzt die Aussprache des Namens voraus), spiegelt also kein ursprüngliches Wissen sondern theologische Spekulation, Assoziation, Systemgeschlossenheit wider und ist in jedem Fall keine Stütze deines Ansatzes, denn egal ob Jahwe, Adonai, G-tt oder was auch immer – jede dieser Zeichenketten erfüllt die sprachwissenschaftliche Aufgabe eines Identifikators (Namen) mit demselben Referenten (nämlich in deiner Fachsprache dem Kontinuum), der folglich „ausgesprochen“ wird.
    Deine Begründung einer assoziativen Hermeneutik für die Bibel aber nicht etwa für deine Posts ist nicht stichhaltig, sprachwissenschaftlich – mit Verlaub – blanker Unfug.

    Darüberhinaus behaupte ich, dass eine solche assoziative Auslegung genau das zur Folge hat, was du – zu recht – anderweitig kritisierst und überwinden willst: sie zementiert ein geschlossenes System (wie ich den Begriff intuitiv in Bezug auf das Denken gebrauchen würde). Denn sie beraubt das System seines Korrektivs von außen, der Wirklichkeit in ihrer widerständigen, zumutenden Eigenbewandnis, indem diese Wirklichkeit in die Watte der systemimmanenten Assoziationen gepackt wird, umgedeutet wird, eingegliedert wird. Wo immer die Wirklichkeit ihr Primat, ihre Funktion als Norma normans, auch gegenüber Assoziationen verliert, verkommt ein Denksystem zur aktiv oder passiv gefährlichen Ideologie, die die Wahrheit verdeckt.

    Der von dir gesehene Widerspruch zwischen 1Kor 8 und 1Joh 4 speist sich aus deiner unsachgemäßen Hermeneutik, vermutlich in Verbindung mit sprachwissenschaftlicher Unkenntnis bzw. fehlender Reflexion über das Phänomen natürliche Sprache und Kommunikation. Grundlegend muss man unterscheiden zwischen Zeichen, Bedeutungsspektrum des Zeichens, Bedeutung (aus dem Bedeutungsspektrum) des Zeichens innerhalb des konkreten Kontexts und Referent der Bedeutung des Zeichens innerhalb des konkreten Kontexts (jeweils abnehmende Abstraktionsebene). Beide Stellen unterscheiden sich hinsichtlich des Referenten: in 1Joh 4 geht es um das (Er-)Kennen (hier Gottes), wie es durch die ganze Bibel hindurch positiv als Möglichkeit dem Menschen zugeschrieben wird. In 1Kor 8 geht es um den Sonderfall pervertierter Erkenntnis, die zu Arroganz und Lieblosigkeit gegenüber anderen führt und als möglich aber zu überwinden vorgestellt wird. Was du als „wörtlichen Schriftsinn“ bezeichnest, hat mit dem, was Luther (in Aufnahme vorheriger und prägend für folgende Diskussionen innerhalb der systematischen Theologie) damit bezeichnete, jedenfalls nichts zu tun.

    Bei allem ist grundsätzlich zuerst die Frage nach ontologischer Ebene und epistemologischer Ebene zu stellen und zu beantworten, daraus das Wesen des zu untersuchenden Gegenstandes zu bestimmen und aus diesem Wesen die sachgemäße Methodik zu entwickeln.

  11. Jörg sagt:

    Ich sehe nicht, wie die Zahl im Kontinuum mit Ausdehnung sein soll – das widerspricht erstens der Definition von Zahl und zweitens wäre im Kontinuum jeder Punkt der Ausdehnung selbst wieder eine Zahl.

    Deine „Definition“ von Erkenntnis ist völlig inhaltsleer und alles andere als präzise. „Erkenntnis“ ist ein Wort der deutschen Sprache zur Bezeichnung eines bestimmten Segments der Wirklichkeit und entsprechend mit einem charakteristischen Bedeutungsspektrum verbunden, das den Informationsgehalt widerspiegelt, den deutsche Sprachteilnehmer damit verbinden, und in einem Standardlexikon der deutschen Sprache in Form von Definitionen erfasst ist. Damit hat dein Wort „Erkenntnis“ nichts (mehr) zu tun, ist also hinsichtlich des Wortcharakters nicht sachgemäß. Zudem: Wenn ein Apfel vom Baum auf die Ebene fällt und dort einen Matschfleck hinterlässt, erfüllt das soweit ich sehe deine Erkenntnisdefinition ohne irgendetwas mit Erkenntnis zu tun zu haben.

    Wenn du dann im letzten Absatz das ganze als „Prinzip“ bezeichnest, wird völlig unklar, was du mit Wortdefinition oder gar Erkenntnis meinst. Soll es nun Definition eines konkreten Wortes sein, nämlich von Erkenntnis, oder ein allgemeines Prinzip? Oder soll Liebe und Erkenntnis identisch sein? (Das dem nicht so ist, zeigt erstens die Intuition, zweitens die Tatsache, dass es eben 2 Bezeichnungen gibt und nicht nur 1, drittens ein Blick ins Wörterbuch. Teilweise Überschneidungen in sondersprachlichen Kontexten wie Euphemismen ändern daran nichts).

    Zudem beschreibt die biblische Rede von Einheit zweier oder mehrerer Menschen keine oder nur eine partielle wesensmäßige Einheit/Annäherung. Das Eins Werden in der Ehe lautet ja wörtlich 1 Fleisch werden und meint nichts anderes als die sexuelle Vereinigung. Eines Sinnes sein bezeichnet nicht das Teilen ein und derselben ontologischen Größe sondern eine inhaltliche Annäherung im Denken.

    Zu guter letzt scheint mir der letzte Satz etwas darzustellen, was allgemein ein Gefahr von bildhafter Rede ist (Fachsprache ist zwar normalerweise das Gegenteil dessen, was man intuitiv als bildhaft bezeichnet – sie ist ja konzipiert für Exaktheit. Wenn sie allerdings zweckentfremdet und auf andere Bereiche, Fachfremdes, angewandt wird, wird sie automatisch im besten Fall bildhaft): Der Schluss von „ontologischem“ Gehalt auf der Bildebene auf ontologischen Gehalt auf der Sachebene. Bildhafte Sprache dient der Veranschaulichung von bestimmten Elementen der Sachebene aufgrund von deren Ähnlichkeit mit bestimmten Elementen der Bildebene. Es ist deshalb nicht sachgemäß, allen Elementen der Bildebene eine Entsprechung auf der Sachebene zuzuordnen. Der AUsgangspunkt ist vielmehr die Sachebene (linguistisch: Kern) in ihrem kommunikativen Kontext, anhand derer die relevanten Elemente der Bildebene zu bestimmen sind.
    Konkret: Wenn in der Mathematik zwei zu einem kontinuierlichen Intervall verschmolzenen Punkte unendlich weitere in sich tragen, sagt das noch nichts über die Wirklichkeit von irgendetwas aus.

  12. Immanuel sagt:

    Hallo Roderich!

    Das ist ja fast so, als wolltest Du den Sachverhalt, dass das “vierdimensionale” (Gott) mit dem “drei-Dimensionalen” (Mensch) kommuniziert, nun (als selber nur “drei-Dimensionaler”) versuchen, ins “zwei-Dimensionale” (Formeln) zu uebersetzen und damit dann diese Frage zu klaeren / aufzuloesen? Wie soll das “zwei-Dimensionale” eine Aussage ueber das Verhaeltnis vom vier-dimenionalen zum Drei-Dimensionalen machen koennen?

    Übergänge zwischen Kategorien und Dimensionen sind schon per Definition ein Geheimnis. Was ist die Antwort des Christentums auf diese Frage? Offenbarung. Ein Übergang zwischen einer niedrigeren zu einer höheren Dimension kann nicht einfach aus der niedrigeren Dimension selbst heraus initiiert werden, sondern nur wenn von Anfang an durch die höhere Dimension eine Art Treppenansatz in die niedrigere Dimension eingebaut wurde, durch den ein Übergang begonnen werden kann. Die Treppe selbst ist aber zwingendermaßen im Nebel des Nicht-Erkennbaren eingeschlossen, denn sie ist Bereich des Nicht-Dimensionalen, kann also weder der niedrigeren noch der höheren Dimension zugerechnet werden. Meine Frage an dich: Wenn die Christen zwischen dem Menschen und Gott von einem derartigen Übergang ausgehen, woraus schließt du dann, das nicht ein vergleichbarer Übergang zwischen der Welt/der Realität und der Mathematik existieren sollte?

    Dinge, die sehr “umfassend” sind, sind schwer zu greifen, und man weiss nie, ob man nicht Aspekte in solchen Formeln ausgelassen hat.

    Die größte Stärke einer Sache, ist zugleich ihre größte Schwäche. Die Stärke der Mathematik (der formalen Sprache) ist die Präzision, das Gegenstück der Präzision ist aber die mangelnde „Umfassendheit“. Die Stärke der natürlichen Sprache ist ihre Umfassendheit, das Gegenstück aber ist ihre mangelnde Präzision. Wenn ich jetzt das, was im Christentum als „Wahrheitsliebe“ bezeichnet wird, in diesem Kontext definieren wollte, was würdest du dann sagen, charakterisiert den Begriff besser: Die Präzision, oder die Umfassendheit?

  13. Roderich sagt:

    Hallo Immanuel,
    interessante Frage. Ich wuerde sagen: ohne Frage, beide „Uebergaenge“ existieren, und bei beiden Uebergaengen kann man einigermassen klar kommunizieren.
    (Es war ja gerade Dein Punkt weiter oben, anzuweifeln, dass Gott sich so klar ausdruecken kann, dass wir (Menschen) ihn hinreichend klar verstehen. Hingegen ist ja eine Grundannahme einer christlichen Hermeneutik: Gott hat uns Menschen in Seinem Bilde geschaffen. Gott ist ein kommunikatives Wesen. Menschen sind als kommunikative Wesen geschaffen. Das Erkenntnisvermoegen des Menschen ist durch den Suendenfall zwar „benebelt“, aber wir haben immerhin noch eine gewisse Vernunft, und wir koennen in gewissen Masse kommunizieren. Und der wesentliche Punkt: die Begrenztheit der menschlichen Kommunikationsfaehigkeit hindert den allmaechtigen Gott nicht daran, hinreichend klar mit uns Menschen zu reden.
    (Dass Menschen grundsaetzlich miteinander kommunizieren koennen, wuerden wohl nur extreme Dekonstruktivisten leugnen, nur widersprechen sie sich ja damit selbst, sonst wuerden sie ja keine Aufsaetze schreiben, da diese ja keiner verstehen kann).
    Wenn Menschen also kommunizieren koennen, kann doch Gott, der in einer „hoeheren Dimension“ ist, sich dieser „niederen Ausdrucksformen“ auch bedienen, und in unseren Sprachen zu uns reden. Wenn Gott allmaechtig ist, wird Deutsch, Tuerkisch, Kalmuekkisch, Hessisch, Bayrisch (etc) zu reden sicher zu seinen kleinsten Uebungen gehoeren.
    D.h. alles, was wir untereinander in diesem Blog reden, das kann Gott auch sagen, wenn er will. D.h. wenn Du mal versuchen wuerdest, IRGENDeine moegliche Vision des Himmels in Worten auszudruecken, mit menschlicher Sprache, so wuerdest Du merken: WOW, unsere Sprache ist zwar begrenzt, aber sie kann schon SEHR viel ausdruecken. Und dann kann Gott das mindestens so gut – in derselben Sprache. D.h. Gottes Faehigkeit, sich uns verstaendlich zu machen, ist nur durch die Ausdrucksfaehigkeit unserer Sprache begrenzt. (Und selbst das waere fuer Gott keine Grenze, denn Er ist ja allmaechtig). Aber – unsere menschliche Sprache, Vernunft, Logik ist schon ganz erstaunlich, also – alles, was wir ueberhaupt denken koennen ueber Gott, den Himmel, die Hoelle (kurz: das Transzendente / Jenseitige), das kann Gott uns auch in unserer Sprache mitteilen – wenn er will.
    (Die bildreiche Darstellung der Hoelle von Danthe ist sicher eine der sprachlich brilliantesten, dichterisch hochstehendsten Darstellungen der Hoelle. Gott kann aber viel besser kommunizieren als der beste menschliche Dichter.)

    D.h. alles, was Du Dir vorstellen koenntest, auf Deutsch ueber (irgend-)einen Himmel oder eine Hoelle auszusagen, das kann Gott – vorsichtig gesagt – mindestens so gut, in derselben Sprache.
    Natuerlich bedient Gott sich menschlicher Instrumente, und man koennte ueber die begrenzte Ausdrucksfaehigkeit der jeweiligen menschlichen Schreiber der Bibel diskutieren. Der Hauptpunkt ist aber der: Die (klare) Kommunikation von einer hoeheren in eine geringere Dimension duerfte logischermassen nicht so schwierig sein. (Wenn wir uns einem Kleinkind von fuenf Jahren begreiflich machen wollen, z.B. „Fass das nicht an, sonst gibt’s Pruegel!“, wuerde es uns ja auch wundern, wenn das Kind ploetzlich anfinge zu philosophieren und zu sagen: „Mein Vater ist in einer hoeheren Dimension als ich, also ist das, was er sagt, sicher nur eine vage Sprache, ein Bild fuer das Unbeschreibliche, also wird es wohl nicht wirklich so gemeint sein, wie er es sagt“…

    (Ein weiterer Faktor ist, dass Gott ja den Menschen auch erschaffen hat, mitsamt allen kommunikativen Faehigkeiten. D.h. wenn Gott urspruenglich die Absicht hatte, zu seinen Geschoepfen zu reden, so wird er ihnen bei der Schoepfung auch von vorneherein die geeigneten „Tools“ zum Reden und Hoeren mitgegeben haben. )

    D.h. das, was wir in der Bibel lesen, duerfen wir auch einigermassen als „Klartext“ auffassen, jedenfalls wenn es die jeweilige Literaturform (z.B. historische Erzaehlung) so nahelegt.

    Zurueck zu Deiner Frage: (dem Uebergang zwischen Gott und Mensch, und Mensch zur mathematischen Formel): der Vergleich, den ich zwischen Gottes Kommunikation zu uns, und Deiner / unserer Kommunikation „zu“ mathematischen Formeln eingefuehrt hatte, hinkt natuerlich etwas. (Gott ist natuerlich nicht nur „vierdimensional“, sondern, wenn man diesen Begriff ueberhaupt einfuehren will, „omni-dimensional“, denn Gott ist ja „alles in allem“; Gott ist allmaechtig, er hat uns erschaffen; die mathematische / formallogische Sprache ist natuerlich nicht „zweidimensional“ in dem Sinne. Auch hast weder Du noch Joerg noch ich sie erschaffen, nehme ich an, daher „beherrschen“ wir alle die mathematische Sprache also nicht perfekt.
    Annaeherungsweise kann man aber sagen: klar, Du als Mensch kannst einigermassen klar einen Inhalt in eine mathematische Sprache „hineingiessen“ bzw. hinein-kommunizieren. Andere Menschen koennen den Inhalt einigermassen klar „hinauslesen“. Aber es bleibt ja ein Umweg.

    (Ohne das Thema zu sehr ausweiten zu wollen: angenommen, Gott kommuniziert innerhalb der Dreieinigkeit, so wie es die Bibel ja sagt – wenn z.B. der Vater zum Heiligen Geist redet – wird Gott bzw. werden sie es sicher nicht erst mal ins Chinesische oder Hessische oder in eine andere Menschliche (und damit begrenztere) Sprache uebersetzen, um sich miteinander klar auszudruecken. (Der Herr moege verzeihen, dass ich Ihn als „Beispiel verwendet“ habe)).
    Das war, was ich damit meinte, als ich bezweifelte, dass eine „Uebersetzung in eine mathematische Sprache“ fuer solche Fragestellungen so sinnvoll ist.

    Zu Deiner zweiten Frage: „Die Stärke der natürlichen Sprache ist ihre Umfassendheit, das Gegenstück aber ist ihre mangelnde Präzision.“
    Das Problem ist aber, dass wir ja in der natuerlichen Sprache denken. (D.h. wir muessen die ( vielleicht praezisere) mathematische Sprache ja ohnehin immer noch in unser, wie Du sagst, „unpraezises Denken“ zurueckuebersetzen).
    „Praezision oder Umfassendheit?“ – auch wieder eine sehr interessante Frage. Hmm, eher beides. Der Wunsch nach „Praezision“ ist ohne Frage eine Ausdrucksform der gottgewirkten Wahrheitsliebe. Insofern: mach weiter so… ! Aber: Wenn man nur einen Teilaspekt einer Sache darstellt, den aber sehr praezise, dann haette man die Wahrheit ja nicht erfasst. Wenn Dich einer bittet, die ganze Deutschlandkarte exakt zu zeichnen, im Massstab 1:10.000, und Du wuerdest aber nur Bayern, oder gar nur Muenchen-Daglfing zeichnen, das dann aber super exakt, dann waere die Aufgabe ja nicht erfuellt.
    Wie auch immer – ich denke, die Formelsprache hat sicher ihre Berechtigung. Sonst wuerde sie ja nicht von Logikern, Philosophen verwendet, sondern man wuerde solche Leute eher in eine geschlossene Anstalt einweisen.
    Nur, wie schon gesagt, habe ich in diesem Fall Zweifel, ob z.B. der Gegenstand der „Unendlichkeit“ im Mathematischen so gut abgebildet werden kann.

    Okay, hier schliesse ich erst mal. 🙂

  14. Roderich sagt:

    Oh, sorry ! Ich sehe gerade, dass ich als HTML Laie wohl die „Zitierzeichen“ falsch verwendet habe, jetzt ist aus Versehen alles als Zitat formatiert. (Ein weiterer BEWEIS fuer die Ungeeignetheit von mathematischen Sprachen – nein, das war nur ein Scherz, es sagt eher etwas ueber die Begrenztheit von manchen Usern aus :-))

    Ich hatte mich ganz oben auf Deinen Satz bezogen: „Meine Frage an dich: Wenn die Christen zwischen dem Menschen und Gott von einem derartigen Übergang ausgehen, woraus schließt du dann, das nicht ein vergleichbarer Übergang zwischen der Welt/der Realität und der Mathematik existieren sollte?“
    Irgendwie ist der Satz weggefallen.

  15. Immanuel sagt:

    @ Jörg: Der Begriff „rationale Rekonstruktion“ war mir bisher noch nicht bekannt. Woraus schließt du, dass ich etwas rational rekonstruieren will? Die unterschiedlichen Definitionen der Unendlichkeit in der Mathematik lösen bei mir Assoziationen aus, die mich zum Träumen bringen, und in mir die Lust wecken, auszuloten, wie weit die Mathematik gehen kann. Sollte ich herausfinden, dass sie doch nicht so weit geht, wie ich intuitiv angenommen habe, war es zumindest ein schöner Traum.

    Ich merke, dass so gut wie alles Hand und Fuß hat, was du schreibst, einschließlich deiner Kritik an meinen Aussagen zur „assoziativen Hermeneutik“, wie du sie nennst. Bitte bedenke aber auch, dass meine Gedanken, die ich formuliere, kaum älter sind als dieser Blog, und ich auch nicht den Anspruch habe, hier die Wahrheit zu erläutern. Mir geht es darum, etwas von dem zu teilen, was ich erlebe und mit dem ich mich beschäftige. Dass es daran viel auszusetzen und zu korrigieren gibt, weiß ich (deshalb schreibe ich diesen Blog), aber alles in Maßen.

    Die Vermeidung des Gottesnamens im Judentum ist übrigens eine späte (nach Abfassung der biblischen Schriften) sekundäre Erfindung aufgrund einer unsachgemäßen Auslegung von 2Mose 20,7 (schon der Vers allein setzt die Aussprache des Namens voraus), spiegelt also kein ursprüngliches Wissen sondern theologische Spekulation, Assoziation, Systemgeschlossenheit wider und ist in jedem Fall keine Stütze deines Ansatzes, denn egal ob Jahwe, Adonai, G-tt oder was auch immer – jede dieser Zeichenketten erfüllt die sprachwissenschaftliche Aufgabe eines Identifikators (Namen) mit demselben Referenten (nämlich in deiner Fachsprache dem Kontinuum), der folglich „ausgesprochen“ wird.

    Wenn du solch folgenreiche Aussagen über historische Begebenheiten machst, erwarte ich ausführlichste Quellenangaben. So etwas unbegründet in den Raum zu stellen, ist Gift für jede Diskussion.

  16. Immanuel sagt:

    @Roderich: Deine Ausführung kann ich soweit mittragen. Meine genauere persönliche Sicht auf die Funktionsweise und die Grenzen der menschlichen Sprache insbesondere im Gegensatz zu formalen Sprachen werde ich in einem eigenen Beitrag thematisieren, so dass ich hier darauf verzichte.

  17. Jörg sagt:

    Woraus ich den Versuch des rationalen Vorgehen gefolgert habe, muss ich ja wohl nicht erläutern ;o). Ich habe dir „Rekonstruktion“ unterstellt, weil ich dir nur das Beste unterstellen will, und das heißt für mich: das du mit deinen ganzen Gedanken nicht etwas konstruieren willst sondern die Wirklichkeit in der Sprache deines Herzens, dh so, dass du sie möglichst gut verstehst, rekonstruieren willst, sie darin übersetzen willst. Rekonstruktion als Ziel und Wesen des eigenen Erkenntnisstrebens zu setzen impliziert das Primat der Wirklichkeit, und ohne das in Theorie UND PRAXIS (nichts gegen Rumträumen usw., solange es nicht um existentielle Fragen geht) sind wir in einem geschlossenen System und jedes weitere Nachdenken ist sinnlos.

    Ich war krank und hatte deshalb ein wenig Zeit – deshalb so viel auf einmal. Und beim Nachdenken sind mir einige grundsätzliche Fragen gekommen, deren sachgemäße Beantwortung für deinen weiteren Denkweg sowohl hinsichtlich Ergebnis als auch hinsichtlich Effizienz in meinen Augen zentral und weichenstellend ist und erfolgen sollte VOR der weiteren Wanderung (auch wenn das gegen dein Wesen sein sollte – ich könnte das nachempfinden ;o)), denn jeder neuer Artikel, den du veröffentlichst, führt seinerseits wieder zu vielen neuen Diskussionen und Gedanken, die du verarbeiten willst. Versteh meine Posts bitte als Interesse an Dir (noch mehr als an deinen Gedanken) und aus dem Wunsch geboren, dass du sachgemäße Antworten auf deine Fragen in der Sprache deines Herzens findest. Wo ich Kritik, auch Fundamentalkritik, geäußert habe und äußern werde, betrifft sie nicht dich sondern Punkte deines Denkens (das ich bestimmt vielfach noch nicht richtig verstanden habe, und auch meine Gedanken sind nur Zwischenstand und wollen und sollen weiter zur Wirklichkeit hin korrigiert werden) und entspringt einer tiefen Achtung vor Dir und deinem Anliegen.

    In allen biblischen Büchern (bis auf Ester, wo Gott explizit gar nicht vorkommt, Prediger und Hoheslied, wo nur die Kurzform Jah vorkommt 8,6) in ihrer gesamten Überlieferung kommt der Gottesname JHWH/Jahwe vor, dh zur Zeit ihrer Abfassung oder Redaktion war dieser Name noch in Gebrauch, sonst würde Adonaj stehen. Geht man von der konservativen Datierung aus also bis zum 4. Jht v. Chr , geht man von historisch-kritischen Datierungen aus sogar bis ins 1. Jhdt n. Chr. Auch außerbiblisch ist Jahwe ab dem 14. Jhdt v. Chr. belegt, auch in hebräischen Inschriften bis mind. das 4. jdht v. chr. (vgl. http://www.bibelwissenschaft.de/nc/wibilex/das-bibellexikon/details/quelle/WIBI/referenz/22127/cache/3cca6e334dae2b0d3ea750f629c72f95).
    Ab 150 n. Chr. taucht zum ersten mal in Handschriften der Septuaginta die Ersetzung durch Kyrios = Herr auf (schon davor durchgehend in den AT-Zitaten des NT). Und ungefähr zu dieser Zeit auch die ersten theologischen Begründungen dafür. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/JHWH#Judentum).
    In jedem Fall eine sekundäre Entwicklung, die etwas verbietet, das ursprünglich ganz normal war, was praktisch jedes Aufschlagen des Tanachs eindeutig vor Augen führt (deshalb Systemgeschlossenheit: Immunisierung gegen die Wirklichkeit als Norma Normans).
    Alles andere ist nicht historischer Natur.

  18. Immanuel sagt:

    Hallo Jörg, ich habe mich jetzt mal mit den beiden Quellen beschäftigt, die du angegeben hast. Meines Erachtens herrscht eine große Verwirrung, weil nicht klar zwischen Alt- und Neuhebräisch unterschieden wird (was sich auf Wikipedia dadurch ausdrückt, dass es keine zwei Artikel zur Unterscheidung gibt, wie bei Altgriechisch und Neugriechisch). In dem Artikel über Hebräische Sprache wird sogar gesagt, dass in Israel gar nicht zwischen Alt- und Neuhebräisch unterschieden wird. In einer gewissen Hinsicht mag das stimmen, aber so allgemein formuliert halte ich das für einen Mythos: Lass mal einen jungen Israeli, der nicht in der Sprache der Thora ausgebildet wurde, einen althebräischen Text lesen, er wird dir garantiert den Unterschied sagen können (vrsch ml nn dtschn Txt hn Vkl z lsn).

    Wer den Unterschied zwischen Alt- und Neuhebräisch nicht genau benennen kann (der meiner Meinung nach größer bzw. wesentlicher ist, als der Unterschied zwischen Alt- und Neugriechisch), disqualifiziert sich meines Erachtens, irgendeine eine Aussage über historische Dinge zu machen, die im Zusammenhang mit diesem Unterschied stehen. Das trifft deutlich auf deine beiden Quellen zu.

    Die Thora wurde Moses in Althebräisch übergeben, also als Konsonantentext. Die Vokalisierung des Textes wurde laut Wikipedia zwischen 700 und 1000 n.C. durch die Masoreten durchgeführt. Den Codex Leningradensis oder die Biblia Hebraica anzuführen, um zu belegen, dass das Verbot der Aussprache des Tetragramms relativ jung ist, ist völlig absurd. Denn erst durch die Vokale dieser Texte ist eine Argumentation möglich, die behauptet, man wüsste, wie das Tetragramm auszusprechen ist. Ohne Vokale (was vor 700 n.C. allgemein der Fall war) konnte man aufgrund der schriftlichen Überlieferung per Definition nicht wissen, wie der Name auszusprechen ist.

    Man kann darüber spekulieren, ob der Name trotzdem ausgesprochen wurde, aber Fakt ist, dass diese Aussprache dann Teil der mündlichen Überlieferung der Juden ist. Und wenn diese sagt, dass der Name nicht ausgesprochen werden sollte, ist es müßig darüber nachzudenken, ob es anders war. Denn es gibt keinerlei Möglichkeit (und meiner Meinung nach Notwendigkeit), das zu belegen.

    Alles andere ist nicht historischer Natur.

    Wenn du nicht andere gute Quellen zur Verteidigung anführen kannst (oder eigene Argumente), kann ich deinen Quellen denke ich zu Recht die historische Natur absprechen. An dieser Stelle erlaube ich mir anlässlich meines momentanen Entsetzens, über deren Natur zu spekulieren: Meiner Meinung nach dienen solche Argumentationen nur der Diskreditierung der mündlichen jüdischen Überlieferung. Und sie sind Teil der christlichen mündlichen Überlieferung.

  19. Jörg sagt:

    Lieber Immanuel

    in deinen ersten beiden Abschnitten kommen bezeichnend oft Formulierungen wie „meiner Meinung nach“ „meines Erachtens“ vor. Daraus schließe ich, dass du keine Ahnung von dem hast, was du da geschrieben hast – was sich schon in der Simplifizierung der Hebräischen Sprachgeschichte in Alt und Neuhebräisch und der Aussage widerspiegelt, Mose habe die Thora im Althebräischen übermittelt bekommen. Ich sehe es nicht ein, das jetzt alles im Detail zu erklären, va müsste ich in vielem nach dem Tiberianischen Hebräisch mich erst einlesen, weil ich da noch nicht selber geforscht habe. Ich verweise dich auf die gut lesbare Standardeinführung Angel Sáenz-Badillos, A History of the Hebrew language. Kapitel 8 behandelt das Moderne Hebräisch. Erlaube mir noch ein Zitat aus TRE XIV, S. 517: „Im Gegensatz zum modernen Syrisch [das gilt aber für jede semitische Sprache, die ohne Unterbrechung gesprochen wurde, Jörg] […] ist im israelischen Hebräisch die gesamte Morphologie im Vergleich zum Bibelhebräisch nahezu unverändert geblieben. Daher bezeichnet es Kutscher ([A History of the Hebrew language], 200) als einen „Segen“, dass das Hebräisch ca 1800 Jahre nicht als Umgangssprache gesprochen wurde“ Die Folge: Es musste aus den schriftlichen Quellen wiederbelebt werden. Die wichtigste Quelle war die hebräische Bibel. Folge: „Änderungen im israeischen Hebräisch im Vergleich zum Hebräisch der früheren Epochen sind häufig nur von einem geschulten Hebraisten feststellbar […] Für den Durchschnittsisraeli ist sein Hebräisch die Sprache der Bibel, der Mischna und der anderen klassischen hebräischen Literatur. Solnage dieser in der Lage ist, die hebräische Bibel ohne Zuhilfenahme einer modernhebräischen Übersetzung im Original zu lesen, kann man das israelische Hebräische noch [erlaube mir eine explikiation, die eigentlich unnötig ist: zurecht – denn Kutscher behandelt sie in seiner Hebräischen Sprachgeschichte] als hebräische Sprache bezeichnen (Kutscher, History 298)“. Der Unterschied ist also noch bedeutend geringer als zwischen Altgriechisch und Neugriechisch – ein heutiger Grieche mit Volksschulabschluss kann 80% des Neuen Testaments verstehen (so mein Griechischlektor unter Verweis auf die Mutter seines griechischen Freundes)).
    Fazit: natürlich gibt es Unterschiede (Orthographie, obsolete Syntaktische Strukturen wie Konsekutivformen, Kohortative usw., va Vokabeln), aber die sind sehr gering, sodass man je nach konkretem Gegenstand und Fragestellung davon abstrahieren kann (dürfte dir als Mathematiker und Informatiker vertraut sein)
    Kritik an dir: Wer nicht qualifiziert ist, sollte sich mit Disqualifikationsurteilen zurückhalten. Vor allem trug das alles nichts zur hier anstehenden Frage bei sondern nur zur weiteren Knappheit meiner Zeit. Du hättest einfach mal für eine Stunde in eine größere Bibliothek fahren können und zumindest mal in Lexikas nachlesen – oder die in den Artikeln angegebene Literatur.

    Natürlich kann auch ohne Vokale wissen, wie die Aussprache ist – die semitischen Sprachen haben über jahrtausende ohne Vokale in der schrift funktioniert. Vor allem kann man durch vergleich mit semitischen Zeugnissen in Schriftsystemen mit Vokalen die historische Entwicklung ein gutes Stück rekonstruieren – man ist also keineswegs auf den MT in tiberiansicher Vokalisation angewiesen.

    Zum Argument: Der alte Konsonantentext liest JHWH, wo die tiberiansiche Vokalisation die Vokale von ‚Adonaj (Herr als Gottesbezeichnung) und aramäisch Sch[ö]ma‘ (Name) dazusetzt mit der Folge, dass sich im hebräsichen unaussprechbare bzw. von der silbenstruktur her unmögliche Formen ergeben. Damit kann diese Vokalisation nicht die originale sein, denn sie hätte mündlich gar nicht tradiert werden können und die aramäische Form ist relativ spät (mit status emphaticus ohne Funktion). Folglich handelt es sich um die Markierung , hier ein anderes Wort in der Aussprache einzusetzen, nämlich Adonai und (später als Alternative) Schma. Wäre dieses Ersetzen aber original oder alt, bzw. zum Zeitpunkt der Niederschrift (va da in der damaligen Kultur viel diktiert wurde, vgl. die Schreiber im AT, zB Jer 36,2 mit 4!) der Bücher schon normal gewesen, wäre aufgrund der Referenzidentität JHWH gar nicht erst niedergeschrieben worden. Und im weiteren Verlauf der Überlieferung hätten Massen von Varianten ‚dnj und JHWH entstehen müssen. Wäre JHWH damals nicht mit einer eigenen Vokalisation ausgesprochen worden, stünde es nicht in den Konsonantentexten.

    Und dass die originale Aussprache Jahwe war, wird in dem Wibilexartikel (den du von vorneherein disqualifiziert hast, scheinbar ohne ihn genau zu lesen) hinreichend belegt, siehe unter Ägypten und Assyrien (das waren Schriftsysteme, die Vokale kennzeichneten). Unter 2.1 3. Absatz sind griechische Transliterationen angegeben, und zwar bis in die Zeit der Kirchenväter, dh noch damals hatte sich die Ersetzung adonaj für jahwe noch nicht flächendeckend durchgesetzt. Dazu kommen formen ιαω, ιαουο, ιαυ, ιεου in griechisch-ägyptischen zaubertexten (Theodor Hopfner, Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber) Innerbiblisch zeugt die Kurzform Jah bis in die tiberianische Tradition absolut (2Mose 15,2 u. öfter), in Verbindung mit anderen Formen (zB Hl 8,6, Hallelu-Jah : Lobet Jah) und in unzähligen Personennamen von einem a als erster Vokal (und zwar nicht dem a vokal (chatephlaut) von adonaj sondern einem vollvokal).

    Im Übrigen gibt es im Judentum alles, nur nicht DIE mündliche Überlieferung. 2 jüdische Rabbi, 2 hoch 4 Meinungen, überspitzt formuliert. Zur diskussion innerhalb der jüdischen überlieferung, die ebenso den sekundären charakter des ausspracheverbots belegen, siehe ansatzweise den (disqualifizierten) wiki-artikel, oder http://de.wikipedia.org/wiki/Talmud#Aufbau_und_Inhalt.

  20. Immanuel sagt:

    Hallo Jörg. Meine Verwendung der Begriffe Alt- und Neuhebräisch war tatsächlich unzulänglich, weswegen sich meine Disqualifikationsaussage disqualifiziert. Ich habe mir auch jetzt noch keine dir vergleichbare wissenschaftliche Qualifikation in der Bibliothek angelesen, weshalb ich die Richtigstellung der Begriffe dir oder anderen überlasse, die sich damit auskennen.

    Was ich egentlich meinte war der Unterschied zwischen Hebräisch mit Vokalisation und ohne. Bei Wikipedia finde ich folgendes:

    Der hebräische Konsonantentext blieb in den älteren Bibelhandschriften recht konstant, enthielt aber kaum Hinweise auf seine Aussprache, so dass ihm allmählich Vokalbuchstaben (Matres lectionis) hinzuwuchsen. Dies geschah uneinheitlich und unsystematisch und führte daher zu vielen Abschreibefehlern und mehrdeutigen Lesarten. Auch kannten immer weniger Leser die Aussprache des hebräischen Konsonantentextes.

    Die Masoreten standen also vor der Aufgabe, die mündliche Lesart ihrer Vorlagen zu bewahren, zu vereinheitlichen und Mehrdeutigkeiten zu beseitigen, ohne den Buchstabenbestand zu verändern.

    Die Vokalisation wird heute in manchen Kinderbüchern, bei zum Studium vorgesehenen heiligen Schriften und in den meisten Gebetsbüchern verwendet, nicht aber bei Alltagstexten. Handgeschriebene Tora-Rollen, wie sie im Gottesdienst verwendet werden, sowie gewisse religiöse Texte enthalten keine Vokalisation, da sie die Mehrdeutigkeit einiger Wörter auf einen bestimmten Sinn reduzieren und dadurch den Text einschränken und interpretieren würde, wie es vergleichbar bei der Einteilung des Textes in Kapitel und Verse geschieht.

    Insbesondere in Bezug auf religiöse Texte macht es also durchaus einen Unterschied, ob eine Vokalisation angegeben ist oder nicht. Und an deinen beiden angegeben Quellen irritiert mich halt, dass ich von ägyptischen, syrischen und griechischen Texten lese, die deiner Meinung nach hinreichend belegen, wie der Name im Hebräischen ausgesprochen wurde, aber nichts über die Bedeutung der Vokalisation erwähnt wird. Ist diese Irritation so schwer nachzuvollziehen?

  21. Jörg sagt:

    Ja, für mich schon, das kann aber auch daran liegen, dass mir Sachen schon selbstverständlich sind (Kommunikationstheoretisch: sie sind für mich Präsuppositionen), die anderen mit weniger Vertrautheit mit dieser Materie nicht selbstverständlich sind.

    Wenn auch die Vokallosigkeit für einzelne Lexeme sehr viel Mehrdeutigkeiten mit sich bringen, so sorgt doch der Kontext (das Zentrale bei der Kommunikation) dafür, dass sich die allermeisten Mehrdeutigkeiten auflösen (beachte „EINIGER Wörter“ im Wikiartikel). Das zeigt sich schon darin, dass zB die allermeisten (ich glaub alle) Zeitungen (allerdings zugegebenermaßen mit mehr Vokalbuchstaben und insgesamt etwas vereinfacht im vergleich zum biblischen Hebräisch) unvokalisiert sind – das wäre nicht möglich, wenn man schlaftrunken in der U-Bahn noch viel rumdeuteln müsste.

    Das alles wiederum hat allerdings nichts mit der Frage der ursprünglichen Vokalisations von JHWH zu tun. Wenn es mehrere von einander unabhängige Zeugnisse, bei denen man sicher sein kann, dass sie nicht irgendwelchen Ideologien ausgesetzt waren, die eine Veränderung begünstigt haben könnten, gibt, die eine unvokalisierte Form vokalisieren, kann man sich glücklich schätzen, dass man sich nicht auf die komplizierten und unsicheren Wege der sprachvergleichenden Komparation begeben muss.
    Namen werden im allgemeinen auch in fremden Sprachen so ausgesprochen wie in der Ursprungssprache – wir sagen nicht /mak donalds/ sondern /mäk donälts/ (simplifiziert). Und wenn aus mehreren Sprachen über einige Jahrhunderte immer das gleiche überliefert ist, gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln.

  22. Immanuel sagt:

    Meines Erachtens (erlaube mir die Spekulation, ohne die ich hier nicht weiterkomme) liegt den beiden Artikel und auch deinen Aussagen die Grundannahme zugrunde, dass Althebräisch sich von den modernen Sprachen (egal ob deutsch oder das moderne Hebräisch) in seiner Funktionsweise, Struktur und Mächtigkeit nicht wesentlich unterscheidet. Das, was also in Deutsch oder im modernen Hebräisch ausgedrückt werden kann, kann auch in Althebräisch ausgedrückt werden, und umgekehrt. Es gibt also vereinfacht mathematisch gesprochen eine bijektive Abbildungen zwischen althebräischen Texten und den Texten moderner Sprachen.

    Wäre JHWH damals nicht mit einer eigenen Vokalisation ausgesprochen worden, stünde es nicht in den Konsonantentexten.

    Dieser Satz zeigt, dass du anscheinend dein modernes Verständnis von Sprachen auf Althebräisch überträgst. Ein Wort, dass man im Deutschen nicht aussprechen könnte (also ein reines Konsonantenwort), wäre völlig nutzlos, man könnte nicht darüber nachdenken und reflektieren, und es würde in kürzester Zeit aus der Sprache verschwinden.

    Entweder die Juden haben Unrecht und das Tetragramm wurde früher ausgesprochen (was der Grund für seinen Erhalt wäre), oder aber die Juden haben Recht und das Wort wurde ursprünglich nicht ausgesprochen. Dass mit fortschreitender Zeit gerade in benachbarten Kulturen die Aussprache des Namens geläufig wird, steht damit nicht in Widerspruch. Die Frage ist lediglich: Ist ein Wort, dessen Aussprache man nicht kennt, in Althebräisch sinnvoll, oder nicht? Ein Teil der jüdischen Tradition (die natürlich Zersplitterung erfährt, genau wie das Christentum) würde wahrscheinlich sagen, dass das Tetragramm das sinnvollste und gehaltvollste Wort der Thora darstellt, und es genau deswegen nicht ausgesprochen werden soll.

    Es ist auch nicht schwer, den Unterschied zwischen Althebräisch und den modernen Sprachen aufzuzeigen: In den modernen Sprachen gibt es keinen Zusammenhang zwischen dem Zahlenwert eines Buchstabens (a = 1, b = 2 …) und der Bedeutung von Wörtern. Man könnte also die Reihenfolge des deutschen Alphabets einfach auf den Kopf stellen und die Zahlenwerte umdefinieren, ohne dass sich an irgendeinem deutschen Text etwas ändern würde. (Das zeigen übrigens auch die verschiedenen Zeichensätzen in der Informatik: Ob ein Buchstabe in ASCII, ISO-8859-1 oder UTF-8 kodiert wird, ändert solange nichts am Text, wie ein in UTF-8 kodierter Text nicht als ISO-8859-1 interpretiert wird, weil sonst jeder Umlaut durch zwei kryptische Zeichen ersetzt wird. Mein Blog ist in UTF-8 kodiert, stellt man im Browser ISO-8859-1 ein, kann man den Unterschied schnell sehen).

    Im Althebräischen geht das aber NICHT! Denn jeder Buchstabe hat einen bestimmten Zahlenwert, und dieser Zahlenwert gehört zum Wesen des Buchstabens (oder stellt sogar dessen Wesen dar). Deswegen ist das althebräische Alphabet zugleich auch ein Zahlensystem, in der alle Zahlen von 1 – 9, alle Vielfachen von 10 zwischen 10 und 90 und alle Vielfachen von 100 zwischen 100 und 400 enthalten sind. Das Wissen über diese Zahlenwerte ist allgemein bekannt, und demnach anerkannter Teil der jüdischen Überlieferung. Wenn das moderne Hebräisch aber eine moderne Sprache ist, dann nehme ich an, dass dort dieser Zahlenwert keine Rolle mehr spielt.

    Für althebräisch kann man sich mit der Bedeutung dieser Zahlen nur dadurch auseinandersetzen, dass man die Juden nach ihrer mündlichen Überlieferung fragt (ihrem Wissen über diese Dinge).

    Wenn also für althebräische Texte die Zahlen eine Rolle spielen sollten, dann kann es KEINE bijektive Abbildung zwischen Texten moderner Sprachen und dem Althebräischen geben, denn das Althebräische ist dann inhärent mächtiger als die modernen Sprachen.

    Das würde sich auch mit der Überlieferung der Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel decken: Die Ursprache hat sich in ihre Bestandteile bzw. Aspekte aufgeteilt, so dass die daraus folgenden modernen Sprachen sich untereinander nicht mehr verstehen konnten.

    Man könnte sagen, dass das Althebräisch zugleich Mathematik wie auch Sprache ist, Wesen und Form zugleich: Wenn wir Wasser anfassen, dann können wir mit unserer Form (unserem Körper) die Form des Wassers wahrnehmen (nass, kühl …). Über unsere Mathematik und Physik wissen wir aber, dass das Wesen des Wassers in dem Verhältnis zwischen zwei Teilen Wasserstoff zu einem Teil Sauerstoff besteht: H2O. Genau so gibt es im Althebräischen eine Form der Sprache (das, was ausgesprochen werden kann), und ihr Wesen (die Mathematik auf den Zahlenwerten der Buchstaben). Und dann kann JHWH ohne Probleme die tiefsten Erkenntnisse des Universums in sich bergen, auch wenn man den Namen nicht aussprechen kann und darf.

    Das ist übrigens der Grund, weswegen seit neuestem mathematische Betrachtungen faszinieren: Weil ich sehe, dass sich moderne Mathematik mit moderner Sprache zusammenbringen lässt, und damit aus dem christlich-abendländischen Kontext heraus wieder eine Annäherung an die Inhalte heran möglich wird, die in der mündlichen jüdischen Überlieferung und dem althebräischen der schriflichen jüdischen Überlieferung aus christlich-abendländischer Sicht bis auf den heutigen Tag verborgen sind.

  23. Jörg sagt:

    Lieber Immanuel

    Spekulation ist dann, und nur dann, sachgemäß, wenn sie auf Teilwissen über die Sache basiert, dieses Teilwissen mittels Logik und Methodik mit Wissen über vermutlich relevante mit der Sache verbundene Dinge verbindet und so zu das ursprüngliche Teilwissen möglicherweise vertiefenden oder verbreitenden Vermutungen führt, diese Vermutungen dann postwendend an der Wirklichkeit prüft und einen Zugewinn an Wirklichkeitskongruenz dem bisherigen Teilwissen hinzufügt, alles nicht wirklichkeitskongruente aber sofort in die Tonne kloppt. Sachgemäße Spekulation, wie sie in jeder Wissenschaft unumgänglich ist, denn selbst bei streng empirischen Wissenschaften ist zwischen Daten und deren Interpretation zu unterscheiden, setzt also vorherige hinreichende Sachkompetenz und das Streben nach Wahrheit = Wirklichkeitskongruenz voraus – kurz gesagt: Wirklichkeitsbezug, Unterordnung unter die Wirklcihkeit. Diese beiden Voraussetzungen sehe ich in deiner Spekulation hier als nicht erfüllt und ich kann nur hoffen, dass dein Nachdenken in den anderen, existentiellen, des Pudels, dieses Blogs und der Wirklichkeit überhaupt Kern betreffenden Bereichen nicht desselben Wesens ist wie deine Spekulation hier über Sprache im allgemeinen und Hebräisch im Besonderen. Spekulation, die nicht zielführend ist, führt eben am Ziel vorbei, und die Räume neben jedem Ziel sind im allgemeinen bedeutetend breiter als das Ziel selbst. VOn daher würde ich raten, die Methode der Spekulation nur unter strengster Methodenkritik anzuwenden, denn weiterführend ist nicht dasselbe wie zielführend.

    Es gibt keine modernen oder – ja was eigentlich? unmodernen? altmodischen? mittelalterlichen? Deine Begriffswahl zeigt, dass du vom Standpunkt der Gegenwart oder Neuzeit aus (die Aufklärer und ihre Kinder pfleg(t)en das vorherige als qualitativ andere, dunkle, Zeit zu beurteilen) beurteilst und damit gerade einen Anachronismus begehst, den du mir vorwirst. Man kann Sprachen nicht nach modern und x unterscheiden, meinetwegen nach tot und lebendig, Schriftsprache und Umgangssprache, aber in jedem einzelnen Fall ist der Unterschied kein wesensmäßiger, qualitativer sondern nur ein gradueller, quantitativer.

    Auf der Formebene unterscheidet sich jede Sprache von einander – sogar deine und meine „Herzenssprache“, die Art und Weise, wie wir unsere jeweiligen Gedanken in (oder auch mal außerhalb) der Grenzen der deutschen Sprache formulieren. Aber auf der Inhaltsebene kann in der Tat jeder beliebige Inhalt in jede Sprache mit ihrer jeweils individuellen, möglicherweise völlig sich unterscheidenden Formebene übersetzt werden. Das ist eine Voraussetzung jeder Kommunikation – ich schreibe dir, weil ich davon ausgehe, meine Gedanken formal so repräsentieren zu können, dass sie bei dir ankommen. Das zeigt sich daran, dass schon in der Einzelsprache jeder Inhalt auf formal verschiedene Weisen ausgedrückt werden kann.

    Reinen Konsonantentext kann auch kein Semit aussprechen – der Konsonantentext ist eine Repräsentation der Aussprache, genauso wie unser Schriftsystem eine Repräsentation der Aussprache ist, und zwar nur eine annährende, aber eine hinreichend annährende. Vor dem Schriftsystem kommt immer das Sprechen, die Aussprache (deshalb SPRACHE, und nicht SCHREIBE, oder SCHRIFTE). Man schreibt auf, was man gehört hat – und wenn JHWH im Text steht, dann muss davor JHWH gehört worden sein, es sei denn, man geht für alle Texte (übrigens nicht nur Bibeltexte – es gibt auch epigraphische Belege von Jahwe in Grußformeln von Briefen u.ä.) von einer Niederschrift durch den Author persönlich aus, was aber für die damalige mündliche Kultur sehr unplausibel ist (siehe meine vorherige Post zum Thema Schreiber). Aber selbst wenn man von einer Niederschrift durch den Author ausgeht – damals wurden Texte nicht durch Vervielfältigung unters Volk gebracht, sondern durch das Vorlesen durch Boten, die höchstens durch eine schriftliche Kopie sich beglaubigten, und das anschließende Weitererzählen. Auch dafür muss JHWH vokalisiert gewesen sein, oder durch irgendetwas vokalisiertes ersetzt (Adonaj, oder „zehnfünfsechszehn“ oder sonst was). Wenn aber ersetzt, dann müssten entsprechende Varianten in der Überlieferung des Konsonantentextes zu finden sein, was nicht der Fall ist.

    Und natürlich steht die Aussprache der Überlieferung in anderen Sprachen, teilweise als Transkription der Aussprache der hebräischen Bibeltexte, in absoluten Widerspruch zur Annahme, dass der Name zu dieser Zeit von den Juden nicht ausgesprochen wurde. Mal abgesehen von der Frage, warum sie nicht einfach die jüdische Gepflogenheit hätten übernehmen sollen, wäre insbesondere die einheitliche Vokalisation völlig unerklärlich, da JHWH keinerlei Anhaltspunkte für Vokalqualitäten oder -quantitäten enthält.

    Es sind ja aber nicht nur andere Sprachen – vgl. die Kurzformen, uva die theomorphen Personennamen. Wie soll bitte ein Personennamen funktionieren, dessen Anfang oder Ende man nicht aussprechen kann? Und in entsprechenden Sprachen sind die Personennamen ja auch mit Aussprache überliefert.

    Deine kabalistischen Phantastereien sind historisch und linguistisch völliger Unfug. Buchstaben haben kein Wesen, es sind Zeichen, die auf Laute verweisen (und die vielleicht irgendwann tertiär auch für Zahlen verwendet wurden). Die hebräischen Buchstaben sind keine hebräischen Buchstaben sondern von den Aramäern und davor den Phöniziern übernommen. Die hebräischen Laute sind keine hebräischen Laute sondern gehen auf den protosemitischen Lautbestand zurück, und zwar unter vielfältigen lautlichen Veränderungen über die Jahrtausende. Wenn also der Zahlenwert zum „Wesen“ des „buchstabens“ gehörte, dann müsste das erstens seit Jahrtausenden der Fall sein (Belege??) und zweitens – welches „Wesen“ denn? Ob man jetzt die Orthographie oder den lautwert oder die Reihenfolge nimmt – das alles hat sich über die Jahrtausende vielfältig verändert, viele Laute sind auch einfach weggefallen. Für das Hebräische ist diese Verwendung für Zahlen ab dem 2. Jhdt v. Chr. belegt (Joüon, Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, § 5f, mit weiterer Literatur). Zudem ist von den benachbarten semitischen Völkern und von hebräischen Ostraka durch Funde, die viele Jahrhunderte früher zu datieren sind, ein anderes, vom Buchstaben unabhängiges System für Zahlennotation bekannt (vgl. H.L. Allrik, „The Lists of Zerubbabel (Nehemiah 7 and Ezra 2) and the Hebrew Numeral Notation“, Bulletin of the American Schools of Oriental Research 136 (1954), 21-27, 23-25. Zu guter letzt: Warum wurde nicht dein einfaches System bei den vielen Zahlen der Bibel verwendet, wenn es das originale, dem „Wesen“ entsprechende war?

    Außerdem hat der Zahlwert der hebräsichen buchstaben nur sehr beschränkt was mit der Reihenfolge zu tun, denn nach 10 kommt eben nicht 11 sondern 20. Und der von dir behauptete Zusammenhang von Bedeutung von Worten und Reihenfolge im Alphabet oder Zahlwert ist reine Esoterik. Ein Zeichen msus von seinem Informationsgehalt (Bedeutung) und seinem Referenten unterschieden werden und ist folglich relativ variabel (vgl. variablenumbenennung in der informatik oder mathematik).

    Ich werde hier aus der Diskussion aussteigen, denn ich sehe keine Bewegung deinerseits von der Spekulations- hin zur Wirklichkeitsebene, in meiner Wahrnehmung gewissermaßen ein Verhaftetbleiben in einem geschlossenen System, sodass ich den Zeitaufwand den weiter rechtfertigen kann.

  24. Immanuel sagt:

    Man kann Sprachen nicht nach modern und x unterscheiden, meinetwegen nach tot und lebendig, Schriftsprache und Umgangssprache, aber in jedem einzelnen Fall ist der Unterschied kein wesensmäßiger, qualitativer sondern nur ein gradueller, quantitativer.

    Ist das eine Prämisse, oder kannst du das ableiten?

    Reinen Konsonantentext kann auch kein Semit aussprechen

    Kann man in semitischen Sprachen nicht buchstabieren?

    Außerdem hat der Zahlwert der hebräsichen buchstaben nur sehr beschränkt was mit der Reihenfolge zu tun, denn nach 10 kommt eben nicht 11 sondern 20.

    Deswegen sage ich ja, dass der Zahlenwert im deutschen Alphabet eine andere Bedeutung hat, als im hebräischen Alphabet.

    Da du so viel über die Wirklichkeit weißt, gehe ich davon aus, dass ich dir eh nichts Interessantes erzählen könnte, was du nicht schon wüsstest. Deswegen kann ich damit leben, dass du vermutlich nicht mehr antworten wirst.

  25. Jörg sagt:

    Lieber Immanuel
    Das Wesen von Sprache ist es, Mittel zur Kommunikation zu sein. Das gilt für alle Sprachen. Jede Botschaft kann prinzipiell in jeder beliebigen Sprache ausgedrückt werden. Was sich zum Teil sehr unterscheidet ist die Formebene. Aber auch hier gibt es grundsätzliche Gemeinsamkeiten aller Sprachen, denn jede Sprache ist an die Menge von Lauten/Kommunikationszeichen gebunden (ohne sie auszuschöpfen), die mittels des Menschlichen Körpers produziert werden könnnen. Mir wären keine Ergebnisse der empirischen Linguistik bekannt, mit denen man etwa „x“ (etwa „moderne“, was allerdings eh keine linguistische Kategorie ist und von daher nicht sachgemäß) Sprachen im Unterschied zu „y“ Sprachen definieren könnte. Falls du da etwas weißt, lass es mich wissen.

    Natürlich kann man etwa im Hebräischen buchstabieren. Buchstabieren ist aber höchst zeitaufwendig, sodass so etwas empirisch gesehen nur sehr selten in einer Sprache eingesetzt wird. Und daraus, dass etwas theoretisch möglich ist, kann man nicht schließen, dass es auch so war, und sollte es nicht, wenn es praktisch (Kommunikationseinbettung) und historisch unwahrscheinlich ist. Wenn jhwh buchstabiert worden wäre, wären die Alternativlesungen Adonaj und Schöma unnötig gewesen, man hätte ja einfach buchstabieren können, oder? Wenn also Buchstabierung ursprünglich, warum dann später noch Alternativlesungen – das wäre ja eher wieder eine Annäherung an die Aussprache des unaussprechlichen jhwh? Wenn jhwh buchstabiert wurde, warum haben dann die Nachbarvölker nicht „JodHehWawHeh“ als Gottesnamen der Hebräer überliefert? Bei den seltsamen Götternamen, die es damals gab, wäre das nicht aus dem Rahmen gefallen, wäre ihnen nicht komisch vorgekommen. Wenn Buchstabierung, warum dann nicht auch Buchstabierung bei der Kurzform des Namens, die von vielen als ursprünglich angenommen wird, weil es im damaligen Kulturraum wohl nicht vorkam, dass Götternamen gekürzt wurden? Die Annahme der Buchstabierung löst also keine Probleme sondern schafft neue und trägt nichts dazu bei, die argumente für Jahwe als ursprüngliche form, wie ich sie in der letzten post versucht habe, zu skizzieren, alternativ zu interpretieren.

    Es hätte ja sein können, dass die Spekulation „Buchstabieren“ uns weiterführt zu einem besseren Verständnis der Sache. Aber dann dürfte sie erstens keine Probleme schaffen und zweitens müsste sie eine Alternativerklärung für die Proargumente der Gegenthese liefern.

    Bei deutschen Buchstaben von „Zahlenwert“ zu sprechen, scheint mir wenig Sinn zu machen, es sei denn, man definiert es sich so – es gehört nicht zu dem, was man allgemein mit den deutschen Buchstaben verbindet. Aber selbst für die hebräischen Buchstaben ist es nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft eine sekundäre Erscheinung (siehe letzte Post). Aber selbst, wenn man so einen Zahlenwert annimmt, wenn man sich zB in das Jahr 150 v. Chr. zurückbeamt, als nachweislich den Hebräischen Buchstaben Zahlenwerte zugeordnet waren. Glaubst du im Ernst, dass wenn damals Person x an Person y einen Brief geschrieben hat, die Zahlenwerte der Buchstaben irgendetwas zur Bedeutung der Worte und damit zur Genese der Botschaft beigetragen haben?!?!? Es ist heute wie damals, beim einzelnen wie beim zusammengesetzten (Wort) sprachlichen Zeichen dasselbe – wenn nicht durch den Kontext etwas gegenteiliges markiert ist, geht man von der Standardbedeutung aus. Nur weil „Ausschuss“ in bestimmten Kontexten für „Müll“ steht, darf man diese Bedeutung nicht in „Bundestagsausschuss“ hineintragen. Und nur, weil der Buchstabe Aleph in bestimmten Kontexten, vielleicht zB Listen von Gütern, auch die Zahl 1 markiert, darf ich diese Bedeutung nicht in obigen Brief hineintragen. Es sei denn, x und y sind geheimagenten und haben eine geheime Nachricht kodiert. Aber das ist nur im geringsten Teil der Kommunikationsereignisse der Fall und das sachgemäße Erkennen/Dekodieren setzt die authorisierte Kenntnis des Schlüssels voraus – ein Ding der Unmöglichkeit für einen antiken Brief. Das heißt, man kann viel Spekulieren und mit verschiedenen mathemischen Berechnungen auch die unterschiedlichsten, stimmigen Geheimbotschaften aus jedem Text herausholen (oder hineinlegen ;o)), aber keine dieser Stimmigkeiten kann als Beleg dafür gelten, dass der wahre Schlüssel gefunden wurde. Selbst wenn es die Botschaft hinter der Botschaft auf der ontologischen Ebene geben würde, wäre sie uns auf der epistemologischen Ebene nicht zugänglich und damit nicht begründet und begründbar (dh innerhalb eines offenen Systems) zugänglich. Der Zahlenwert eines Buchstabens hat also zunächst mal keine Bedeutung, er ist eine Sonderbedeutung in bestimmten Kontexten. Wenn ein Kontext als ein solcher besonderer Kontext sprachlich (zB Liste) oder außersprachlcih (Kenntnis des Schlüssels) markiert ist, ist es sinnvoll und sachgemäß, mit der Sonderbedeutung zu operieren (die in diesen Fällen eben die vorliegende Bedeutung ist), ansonsten nicht.

  26. Immanuel sagt:

    Die Konsistenzbedingung, nach der neue Hypothesen mit anerkannten Theorien übereinstimmen müssen, ist unvernünftig, weil sie ältere und nicht bessere Theorien am Leben enthält. Theorienvielfalt ist für die Wissenschaft fruchtbar, Einförmigkeit dagegen lähmt ihre kritische Kraft. Die Einförmigkeit gefährdet auch die freie Entwicklung des Individuums. (Wider den Methodenzwang, Paul Feyerabend)

    Sag mir mal bitte, wie ich im Sinne Poppers falsifizieren könnte, dass JHWH ursprünglich wie jedes andere Wort ausgesprochen wurde.

  27. Jörg sagt:

    Feyerabend stimme ich voll zu. Beachte aber, dass er von (anerkannten) Theorien spricht. Die von mir forcierte Konsistenzbedingung dagegen wäre, dass eine neue Hypothese mit den Daten übereinstimmen muss, und möglichst mit gleichem oder besserem Erklärungswert als die alten Theorien. Im konkreten Fall falsifizieren die Daten aber die Hypothese der Nichtaussprache Jahwes.

    Gegen die Annahme, das JHWH ursprünglich (wie jedes andere Wort innerhalb eines Konsonantentextes auch) ausgesprochen wurde, würde sprechen, wenn Zeugnisse aus vokalisierten Schriftsystemen gefunden würden, die älter sind als die bisher bekannten einheitlichen Bezeugungen einer Aussprache Jahwe (oder ähnlich) und eine Nichtaussprache bzw. daraus folgende (Erfindung einer Vokalisation) völlig uneinheitliche Wiedergabe widerspiegeln (zB tatsächlich nur „JHWH“, oder eine Wiedergabe des Buchstabiervorgangs oder ähnliches).

    Zu Popper: Soviel ich weiß (ich habe weder Popper im Original gelesen noch mich über eine Überblicksveranstaltung und eigene Gedanken ohne Auseinandersetzung mit Vertretern der Wissenschaftstheorie hinaus beschäftigt), hat Popper den Falsifikationismus als Antwort auf den Positivismus und seine Missachtung des Induktionsproblems formuliert. Das bedeutet doch, dass der Falsifikationsismus für Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten entwickelt wurde. Inwieweit ist der Falsifikationismus daher sachgemäß für Wissenschaften, die keine Gesetzmäßigkeiten (=>Vorhersagen) zum Gegenstand haben sondern einzelne Ereignisse, dh die historischen Wissenschaften? Weißt du, ob Popper oder seine Schüler den Falsifikationismus auf Naturwissenschaften beschränkt sahen oder auch auf historische oder Geisteswissenschaften ausgeweitet haben? Falls letzteres, inwiefern wurde der Falsifikationismus da modifiziert (skizzenhaft), und kennst du eine Beschreibung darüber zum Einlesen?
    Falsifikation im Popperschen Sinne setzt für mein Verständnis immer die Ableitung von neuen Aussagen aus einer Theorie voraus, und diese neuen Aussagen werden dann überprüft, müssen überprüfbar und falsifizierbar sein. Historische Wissenschaften machen aber keine solche Ableitungen oder neuen Aussagen, sondern sie behandeln nur das Alte, Geschehene und teilweise Bekannte. Es können keine neuen Daten generiert werden durch Experimente o.ä.. Die zur Verfügung stehenden Daten sind nur wenige. Eine gute historische Theorie erklärt alle Daten (nicht alle möglichen sondern alle gegebenen), und es gibt meistens mehr als eine, da die Daten mehrere Interpretationen möglich machen. Keine solche Theorie ist falsifizierbar, da sie die Daten erklärt. Da die Daten allerdings gegeben sind, tatsächliches Geschehen widerspiegeln, ist auch eine Erklärung möglich. In historischen Wissenschaften gibt es kein Induktionsproblem, dann aber auch keinen Falsifikationismus. Oder?

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