Taste the Waste

Letzte Woche bin ich durch die Tagesthemen auf einen Dokumentarfilm zum Thema Lebensmittelverschwendung aufmerksam geworden, der seit 08. September in den Kinos ist: Taste the Waste.

Es ist nicht der erste Film, der mir zu diesem Thema über den Weg läuft. Im Sommer 2007 sah ich We Feed The World, der ebenfalls die Absurditäten der westlichen und insbesondere der europäischen Agrarpolitik und -wirtschaft thematisiert. Das Angenehme an diesem Film war die sachliche Distanz des Filmemachers Erwin Wagenhofer zu einem Thema, bei dem die Emotionen sehr leicht hoch kochen können: Selbst als der Nestlé-Konzernchef Peter Brabeck-Letmathe erklärt, warum die Versorgung mit Wasser seiner Meinung nach kein Grundrecht sein sollte, wird kein moralischer Zeigefinger erhoben. So war eine Annäherung an das Thema möglich, ohne selbst eine moralische Instanz sein zu müssen.

Was ich aber auf einem ersten Streifzug durch die Weiten des Internets zum Thema Taste the Waste aufschnappen konnte, löst bei mir unterschwellig Irritationen aus. Es muss gar nicht viel mit dem Film selber zu tun haben, eher damit wie er angekündigt und besprochen wird. Ich habe in mich hinein gehorcht und versucht herauszufinden, was es eigentlich ist, das mich unangenehm berührt. Ich weiß nicht, ob ich dabei erfolgreich war, aber ich glaube es ist die Logik, die auch dem gegenüber Kindern gern benutzten Satz innewohnt:

Iss dein Brot auf, in Afrika müssen die Kinder hungern!

Der Hunger

Wie komme ich zu dieser Assoziation? Es hat damit zu tun, dass das Thema Nahrungsmittelverschwendung meist in einem Atemzug mit den Hungerproblemen der Welt genannt wird. Zum Beispiel wird auf tagesschau.de der Film unter dem Beitrag „Auf den Teller statt in die Tonne“ folgendermaßen eingeführt:

Vier Millionen Menschen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung Somalias – haben nicht genug zu essen. Rund 750.000 Menschen sind akut vom Tod bedroht. Gleichzeitig landet weltweit ein Drittel aller Lebensmittel nicht auf dem Esstisch, sondern im Müll. In Deutschland soll es sogar die Hälfte sein. Und allein von der Nahrung, die in Europa weggeworfen wird, könnten theoretisch alle Hungernden der Erde satt werden.

Passend dazu wird in den Links zu verwandten Themen die Hungersnot in Somalia verlinkt:

  • Somalia: Hungersnot verschärft sich weiter
  • Dossier: Hungersnot am Horn von Afrika
  • Millionen leiden unter der Dürre
  • Weiterer Teil Somalias zum Katastrophengebiet erklärt

Das Hungerproblem wird vom Film selbst thematisiert, wie auch dem Trailer zu entnehmen ist. Dort heißt es:

Das Essen, das wir in Europa wegwerfen, würde zwei mal reichen, um alle Hungernden der Welt zu ernähren.

Was auf den ersten Blick recht sachlich aussieht, trägt eine unheimlich starke moralische Anklage in sich, die ihre Wirkung nicht verfehlt. So fallen die Reaktionen im Netz entsprechend betroffen aus:

  • bytelude.de: Unglaublich beschämend.
  • hardsensations.com: Wir bemitleiden die armen hungernden Kinder in Somalia und spenden pünktlich vor Weihnachten einen Fuffi an Brot für die Welt, und gleichzeitig werfen wir tonnenweise Lebensmittel in den Müll.
  • Kommentar auf zeit.de: Es kann nicht sein, dass hier bei uns Tonnen von Lebensmitteln weggeschmissen werden, während gleichzeitig Millionen von Menschen sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Wir können das so nicht mehr länger hinnehmen. Die jetzige Verteilung bzw. Produktion von Lebensmitteln ist ungerecht.
  • moviemaze.de: Taste the Waste liefert Einblicke in eine Zerstörungsorgie, die angesichts des Hungers auf der Welt schlichtweg pervers ist. […] Mit alledem, was in den Industrienationen weggeworfen wird, ließe sich sogar der Hunger weltweit beseitigen. […] Die zentrale Frage, die sich zwangsläufig aufdrängt, lautet: Wie kann es sein, dass global Millionen Menschen hungern oder sogar verhungern, wohingegen es sich die westlichen Nationen erlauben, hemmungslos subventionierte Lebensmittel in Mengen zu produzieren, die schlichtweg nicht verwertet werden können, um sie dann in den Müll zu befördern?

Vielleicht verstehe ich etwas falsch, aber die Botschaft die bei mir ankommt, ist:

Auf der Welt verhungern Menschen, weil in Europa Nahrung verschwendet wird.

Die Blendgranate

Ich kann nachvollziehen, wie man zu dieser Auffassung kommt: Zwischen den Hungersnöten auf der Welt und dem Nahrungsmittelüberfluss in der westlichen Welt gibt es einen starken thematischen Zusammenhang. Es geht um Nahrung, einmal im Kontext des Mangels und einmal im Kontext des Überflusses. Und hier lauert die Denkfalle: Das Ganze sieht einfach zu sehr nach den zwei Seiten ein- und derselben Medaille aus, und im Nu sind wir uns sicher, dass es sich um einen kausalen Zusammenhang handeln muss. Aber allein die Tatsache, dass es gleichzeitig Hunger und Überfluss auf der Welt gibt, sagt noch rein gar nichts darüber aus, ob der Überfluss tatsächlich die Ursache des Hungers ist.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich eines Tages als Verteidiger des „bösen Kapitalismus“ wiederfinden werde, aber an dieser Stelle wird mir bewusst, dass das Schlagwort Verteilungsproblem eine echte Blendgranate sein kann, weil es den offensichtlichen thematischen Zusammenhang nutzt, um einen kausalen Zusammenhang selbstverständlich erscheinen zu lassen. Dieser müsste für sich selber aber erst einmal gezeigt werden.

Der kausale Zusammenhang

Bleibt die Frage zu klären, ob es nun einen kausalen Zusammenhang gibt. In einer globalisierten Welt gibt es unzählige sich überlagernde Wechselwirkungen, deren genauer Zusammenhang unmöglich analysiert werden kann. So sind z.B. die genauen Gründe für die Nahrungsmittelpreiskrise 2007-2008 nicht bekannt, man kann nur Mutmaßungen darüber anstellen, wie schwer einzelne mögliche Gründe ins Gewicht fallen.

Als Beispiel dafür, wie aussichtslos die Beurteilung einzelner Gründe ist, nehme ich die Preispolitik: Europa wird zum einen dafür gescholten, dass es durch Exportsubventionen den Weltmarkt überschwemmt und damit z.B. die Milchbauern in Afrika ihrer Lebensgrundlage beraubt, weil sie mit dem aus Europa billig importierten Milchpulver nicht konkurrieren können.1 Auf der anderen Seite wird die künstliche Verknappung durch Lebensmittelvernichtung kritisiert, die wie die Exportsubventionen die Preisstabilität zum Ziel hat, aber in Bezug auf den Weltmarkt den gegenteiligen Effekt zeigt: Durch Verknappung steigen die Preise. Wer kann dann jetzt eigentlich den Gesamteffekt beurteilen? Führt die Politik der EU nun dazu, dass in der Summe die Preise steigen, oder dass sie fallen?

Und wenn hemmungslos überproduziert und anschließend wieder vernichtet wird, steht dann mehr oder eher weniger Nahrung zur Verfügung, wie wenn man gleich auf den Punkt nur soviel produziert hätte, wie tatsächlich verbraucht wird?

Es gibt offensichtliche Wechselwirkungen zwischen Hunger und Nahrungsmittelüberfluss, aber versteht die jemand nur annähernd so gut, dass er daraus die schwere moralische Anklage ableiten könnte, die westliche Welt würde den Hunger von Millionen verursachen?

Die Alternative

Da ich mich außerstande sehe, einen kausalen Zusammenhang auch nur annähernd zu belegen oder zu widerlegen, muss ich einen Trick anwenden: Wenn es einen kausalen Zusammenhang gibt, muss dieser zumindest theoretisch aufgehoben werden können. Ich könnte also einen kausalen Zusammenhang belegen, indem ich eine Alternative aufzeige, wie eine Welt ohne Hunger aussehen könnte. Dies darf durchaus eine idealistische Alternative sein, sofern sie in sich stimmig ist.

Und spätestens hier fühle ich mich wie im Kalten Krieg: Freie Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, Kapitalismus oder Kommunismus? Nehmen wir also an, es handele sich tatsächlich nur um ein Verteilungsproblem. Dann ließe sich durch eine geschickte Verteilung der Hunger aller Menschen auf der Welt stillen. Dazu bräuchte es eine Weltregierung, die die Nahrung nach dem tatsächlichen Bedarf auf der Welt verteilt, und nicht aufgrund nationaler oder privater Partikularinteressen.

Es gibt zwei wesentliche Gründe, warum diese Alternative nicht funktionieren kann:

  1. Es gäbe keinen Überschuss zu verteilen, da überhaupt kein Überschuss produziert würde. Das mögliche Verteilungsszenario entsteht überhaupt erst durch den von der freien Marktwirtschaft produzierten Überschuss. Hätte Europa eine Planwirtschaft, so würden wir zwar keine Nahrungsmittel wegschmeißen, aber wir hätten auch nichts übrig, um es mit den Hungernden zu teilen.
  2. Planwirtschaft und Agrarwirtschaft sind wohl die am wenigsten kompatiblen Wirtschaften, da bei der Agrarwirtschaft die Produktion völlig unvorhersehbaren Schwankungen unterworfen ist, die jegliche sinnvolle Planung ohne massive Überproduktion (und die damit einhergehende Verschwendung) unmöglich machen. Die Geschichte beweist dies auf traurigste Art und Weise: Stalin war in der Holodomor genannten Hungersnot 1932/33 für den Hungertod von bis zu 14,5 Millionen Menschen verantwortlich, Maos „Großer Sprung nach vorn“ hat 1958 – 1961 sogar schätzungsweise 15 – 45 Millionen Menschen aufgrund von Hunger das Leben gekostet.

Die Schlußfolgerung

Sind wir also wegen unseres Überflusses für den Hunger von Millionen verantwortlich? Ich würde sagen: Nein!

Das hindert uns aber nicht daran, unnötige Verschwendung und übermäßigen Ressourcenverbrauch auf ein mögliches Minimum zu beschränken.

Lasst uns dankbar dafür sein, dass wir gar nicht wissen, was Hunger überhaupt ist. Und lasst uns daran arbeiten, dass in Zukunft immer mehr Menschen in diesen Genuss kommen dürfen.


Fußnoten:

  1. Man beachte, dass dieses Problem NICHT durch die freie Marktwirtschaft verursacht wird, sondern durch die Planwirtschaft der EU, die bis 1992 massiv versucht hat, mit sogenannten Interventionspreisen ihren Agrar-Binnenmarkt vor den Schwankungen des Weltmarkts zu schützen.
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23 Kommentare zu Taste the Waste

  1. Cörv sagt:

    Hi,

    Spannendes Thema. 🙂

    Ich muss sagen, das klingt alles sehr durchdacht und ich hab ehrlich gesagt auch nur die Hälfte verstanden, aber ich glaube nicht, dass das alles nur mit reiner Logik funktioniert, und dass wir uns damit so einfach reinwaschen können. (Vielleicht war das auch gar nicht deine Absicht.)

    Z.B. ist da meiner Meinung nach, auf Seiten der Wirtschaft, auch eine Menge Rücksichtslosigkeit und Profitgier mit im Spiel. Und es werden Geschäfte gemacht, bei denen billigend in Kauf genommen wird, das viele Menschen darunter leiden. Mir fällt da spontan der Verkauf von Panzern nach Saudi Arabien ein, obwohl man weiß, dass sie dazu benutzt werden, um Zivilisten in Bahrain und Syrien damit anzugreifen.

    Ich habe auch einmal in einer Reportage gehört (Ich kann leider keine Quelle nennen), dass Europa armen Ländern Weizen billig abkauft, um daraus Tierfutter herzustellen. Den Gewinn stecken sich ein paar wenige aus der korrupten Regierung in die Tasche und der Bevölkerung fehlt der Weizen.

    Aber auch wir, die nicht in der Lage sind uns in einen Betroffenen aus Somalia hineinzuversetzen und manchmal zu sorglos mit unserem Essen umgehen, tragen unseren Teil bei.

    Wahrscheinlich hast du Recht und das ganze ist hochkomplex und schwer zu durchblicken. Aber am Ende haben wir Lebensmittel, die von anderen Menschen zum Überleben benötigt werden, und schmeißen sie weg. Ich finde da kann man sich dann auch mal einen Vorwurf gefallen lassen.

  2. Immanuel sagt:

    Hi Cörv, danke für deinen Kommentar!

    Es war in der Tat nicht meine Absicht, mich mit logischen Taschenspielertricks rein zu waschen. Wenn ich das wollte, würde ich das Thema eher einfach ignorieren und mir damit viel Energie sparen. Mir ging es tatsächlich um eine aufrichtige, ergebnisoffene Untersuchung der Fragestellung (allerdings kann ich natürlich andere, mir nicht bewusste Motivationen nicht ausschließen).

    Zum Thema Rücksichtslosigkeit und Profitgier in der Wirtschaft: Da möchte ich gar nichts beschönigen. Die Welt wäre tatsächlich ein wesentlich angenehmerer Ort, wenn jeder seinen eigenen Vorteil UND den Vorteil der anderen suchen würde (also eine Win-Win-Situation anstreben würde), anstatt NUR den eigenen Vorteil zu suchen, wenn nötig auch auf Kosten der anderen (also eine Win-Lose-Situtation). Dann würde die Marktwirtschaft erst richtig florieren und wir würden wahre Wirtschaftswunder erleben. Dennoch sind durch die Hand von Rücksichtslosen und Profitgierigen (ich nehme jetzt mal den Konzern Nestlé als Beispiel) sehr viel weniger Menschen verhungert, als durch die Verteilungsfantasien von Stalin und Mao. Deshalb ist für mich die Profitgier auch das geringere Übel im Vergleich zu Bestrebungen, die ganze Welt kontrollieren und steuern zu wollen, und sei es auch mit der hehren Absicht, ein Paradies auf Erden zu schaffen.

    Aber am Ende haben wir Lebensmittel, die von anderen Menschen zum Überleben benötigt werden, und schmeißen sie weg. Ich finde da kann man sich dann auch mal einen Vorwurf gefallen lassen.

    Prinzipiell habe ich nichts dagegen, mir einen Vorwurf gefallen zu lassen. Aber wenn ich meine (zugegebenermaßen schwer verständlichen Ausführungen) zum Thema thematischer und kausaler Zusammenhang auf deinen letzten Absatz anwenden darf, sagst du übersetzt: Es gibt hier einen thematischen Zusammenhang (Lebensmittel werden zum Überleben benötigt ⇔ Lebensmittel werden weggeschmissen), aus dem man auf den ersten Blick einen Vorwurf ableiten kann, völlig egal, ob es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang gibt (die Hungersnöte werden durch das Wegschmeißen ausgelöst).

    Ich will versuchen, anhand eines Beispiels die Absurdität dieser Art von Vorwurf aufzuzeigen: Nehmen wir an, mein Nachbar habe eine Arbeit, bei der er gut verdient, und er sich so manche luxuriöse Annehmlichkeit leisten kann. Ich hingegen sei arbeitslos und könne meine Familie nur mit Mühe und Not ernähren. Mein Nachbar gibt dann also leichtfertig den Überschuss seines Geldes aus, der mir so dringend fehlt, und muss sich daher den Vorwurf gefallen lassen, meine Geldknappheit zu verursachen. Was aber, wenn der Nachbar mir nicht mal sein überschüssiges Geld zur Verfügung stellen kann, weil ich sonst von ihm abhängig würde und meine Chancen, jemals wieder einen Arbeitsplatz zu bekommen, auf Null fallen würden?

    Kann man ihm dann noch einen Vorwurf machen, obwohl er nicht mal eine Handlungsalternative hat?

  3. Cörv sagt:

    Hey, nix zu danken.

    Wie gesagt, spannendes Thema :-).

    Vielleicht hast du recht und es gibt keinen kausalen Zusammenhang, obwohl ich es mir nich richtig vorstellen kann. Aber selbst wenn wäre es auch egal. Auch wenn wir die Hungersnöte nicht verursachen, ist es verurteilungswürdig Lebensmittel wegzuschmeißen mit denen man Leben retten könnte.

    Ich finde das Beispiel mit dem Gutverdiener und dem Schlechtverdiener passt hier nicht richtig, weil Menschen sterben. Wenn der Schlechtverdiener und seine Familie und Kinder am verhungern sind und vielleicht schon Mitglieder seiner Familie gestorben sind und der Gutverdiener steht daneben und wirft tonnenweise Lebensmittel in den Gulli, dann kann man das dem Gutverdiener, meiner Meinung nach, vorwerfen. Vielleicht hat der Gutverdiener seine Gründe weswegen er das tut, aber trotzdem macht er sich schuldig.

    Ich bin übrigens auch nicht für eine Weltregierung, wollt ich nochmal dazusagen. Nur für den Fall das jetzt der Eindruck entstanden ist. 😉

  4. Immanuel sagt:

    Okay, ich glaube jetzt verstehe ich deinen Punkt: Wir haben vielleicht den Hunger nicht verursacht, sind aber trotzdem wegen unterlassener Hilfeleistung mit Schuld am Hungertod von Menschen.

    Ich würde dir recht geben, wenn die Verwendung unserer Nahrungsmüllberge als Hilfeleistung nicht ein extrem zweischneidiges Schwert wäre: In den Empfängerländern würden zwar zunächst weniger Menschen Hunger leiden, aber dafür würden diese Länder dauerhaft zur Müllkippe der westlichen Welt werden, weil die lokale Agrarwirtschaft durch die Überschwemmung mit unseren Resten vollends kollabieren würde (denn wer zahlt teures Geld für afrikanische Produkte, wenn er billiger oder sogar kostenlos die Reste Europas verzehren kann). Und dann wären sie für immer auf unsere Almosen angewiesen, ohne Chance darauf, sich jemals selbst ernähren zu können. Wenn uns dann mal irgendwann der Überschuss ausgehen sollte, verhungern die Empfängerländer schneller, als wir schauen können, und diese zwar verzögerten, dafür umso heftigeren Hungersnöte hätten wir dann wirklich verursacht, weil wir die Empfänger vollständig von uns abhängig gemacht haben. Ich glaube nicht, dass das wirklich besser ist …

  5. Luise sagt:

    Ja, wirklich ein superspannendes Thema. Ich habe den Film gesehen, und finde ihn gut. Er stellt logische Zusammenhänge her und wirft auch noch weitere Fragen auf.
    Zu den logischen Zusammenhängen, und den hier in der Diskussion auftauchenden Fragen: Es wäre wohl zu einfach das Rechenbeispiel mit der Menge des bei uns verschwendenten Essens und den im Rest der Welt Hungernden ernsthaft damit als unlogisch abtun zu wollen, dass man schließlich unsere Essensabfälle nicht nach Afrika karren könnte. Stimmt, das kann man nicht, davon hat auch nirgendwo irgendjemand gesprochen. Auf mich wirkt das leider eher wie ein Totschlagargument.
    Der Film präsentiert eine Reihe Interviews mit intelligenten Menschen, die sich mit dem „waste“-Thema in iregndeiner Weise beschäftigen, ob es der EU-Mensch ist, der mit dem Krumme-Gurken-Verordnungsmärchen aufräumt, oder der Supermarktdirektor, der erklärt, nach welchen Regeln er das Essen wegschmeissen muss, ob er das gut findet oder nicht, oder der Wirtschaftswissenschaftler, der die Zusammenhänge erklärt, nach denen einige Lebensmittelspekulationen funktioniert haben: Es ist spannend zu erkennen, wie daraus eine schlüssige Argumenationskette entsteht. natürlich viel zu lang, umm das hier ausführlich zu behandeln 😉

  6. Hallo Luise,

    ich kann Totschlagargumente nicht ausstehen, und deshalb würde ich gerne verstehen, warum ich eines angeführt haben sollte.

    Mir geht es um die Frage von moralischer Schuld, oder verständlicher gesagt Sünde (denn in dieser religiösen Kategorie hat unser Verständnis von Moral seine Wurzel), die die westliche Welt mit ihrem Überfluss angeblich begeht, weil sie dem Rest der Welt trotzdem nicht hilft, auch wenn er verhungert.

    Meinem Verständnis nach hängt die Schuld eines Menschen, die er durch eine Handlung auf sich lädt, aber immer von den möglichen Handlungsalternativen ab (das ist auch in der Rechtsprechung so). Eine Beurteilung unabhängig von den Handlungsmöglichkeiten ist unzureichend und ungerecht.

    Deshalb ist die moralische Verurteilung der westlichen Welt allein auf Basis eines simplen Rechenbeispiels ohne Betrachtung von Handlungsalternativen ungerecht. Wer der westlichen Welt eine Alternative aufzeigen kann, kann sie auch verurteilen. Alle anderen dürfen gerne die Situation bemängeln (man sollte auch Probleme ansprechen, wenn man noch keine Lösung dafür hat), aber eine moralische Verurteilung erscheint dann eher selbstgerecht als gerechtfertigt.

    Wo wende ich denn jetzt ein Totschlagargument an? Ich wäre sehr dankbar, wenn ihr mir das aufzeigen könntet.

  7. Cörv sagt:

    Ich glaub ich muss mir den Film auch anschauen. Scheint wirlkich spannend zu sein.

    @Immanuel: Ich glaube das viele der Lebensmittel die bei uns weggeschschmissen werden gar kein Müll sind. Zum Beispiel die Brote beim Bäcker, die nur produziert werden, damit das Regal auch zum Feierabend noch schön voll ist. Die könnte man doch problemlos verwenden, um den Hunger zu bekämpfen.

    Dass die hungernden Menschen dann erstmal abhängig wären, stimmt vielleicht, aber sie wären wenigstens nicht tot. Und wenn das eine Problem gelöst wäre könnte man sich Gedanken machen, wie man das Andere angeht. Es ist doch auch logisch, dass es bei dem Thema keine Lösung geben kann, bei der sofort alles gut wäre.

  8. Roderich sagt:

    Hallo Immanuel,
    vielen Dank, ich finde Deinen Kommentar oben sehr gut. Im Prinzip volle Zustimmung – wir koennen durch „weniger essen“ nicht das Problem der Armut in z.B. Afrika loesen. Denn wenn wir unsere „Ueberbleibsel“ dorthin senden wuerden, wuerde das wieder einen Eingriff in die Marktwirkungen dort bedeuten – lokale Essensindustrien wuerden pleite gehen.
    So ist die Loesung fuer die Armut der dritten Welt nur langfristig anzugehen:
    – mit einer Veraenderung des politischen Systems (z.B. angelehnt an unser Modell einer „Sozialen Marktwirtschaft“, die allerdings v.a. die Marktwirtschaft betont, das uns in BRD das Wirtschaftswunder der 50er und 60er beschert hat.). Roepke, Mueller-Armack, Walter Eucken (die Vaeter der sozialen Marktwirtschaft) waren uebrigens christlich und gingen von einem christlichen Menschenbild aus.
    Die Annahme dahinter war und ist: es kann nur das verteilt werden, was erst mal produziert worden ist.

    Dazu gehoeren (laut Eucken’s Prinzipien der Wirtschaftspolitik) auch:
    1.) „Null-Inflation“ (Geldwertstabilitaet) – alles andere waere Diebstahl am Vermoegen der Bevoelkerung
    2.) Konstanz der Wirtschaftspolitik (Dritte Welt Laender sollten z.B. konstant niedrige Steuern haben, sollten nicht staendig aendern, was subventioniert wird und was nicht etc. – d.h. die Wirtschaftssubjekte sollen wissen, was auf sie zukommt – das foerdert die Investitionen)
    3.) Niedrige Steuern
    4.) Subventionen sollten eigentlich gar keine ausgeteilt werden
    5.)Rechtsstaatlichkeit etc. (Es gibt ca. 10 grundlegende Prinzipien, die Eucken formuliert hat, die fuer ein Wachstum der Volkswirtschaft grundlegend sind).

    Das Problem fuer z.B. „Konstanz der Wirtschaftspolitik“ oder „Rechtstaatlichkeit“ ist aber, dass das einen gewissen Wertekonsens voraussetzt. Genauso wie eine Abschaffung der Korruption nur durch eine Aenderung des Denkens (und der Herzen) erreicht werden kann.
    Solange in Afrika aber die Fuehrer korrupt sind und viele oder fast alle Gelder in die eigene Tasche stecken, anstelle in die Infrastruktur, wird sich vermutlich erst mal wenig aendern an den Problemen.
    (Transparency International macht eine hervorragende Arbeit darin, um in kleinen Schritten die Korruption etwas einzudaemmen, indem gewisse rechtliche Vorkehrungen getroffen werden. Z.B. sollen Richter nicht mehr vom Praesidenten ernannt werden, und sollen Richter ein Mindestmass an Sachkenntnis (Studium mit Abschluss etc.) haben; auch sollen Richter oder Polizisten ein recht gutes Gehalt bekommen – damit sie nicht mehr aus Geschenke angewiesen sind. etc.)

    Also, es ist ein weites Feld, aber das Hauptproblem ist in der Tat nicht, dass wir im Westen zu viel essen.
    (Dass wir in der EU durch Subventionen an unsere Bauern und durch Importzoelle die Bauern der sog. Dritten Welt ausschliessen, ist aber ein grosses Unrecht – hier sollten wir selber mehr Marktwirtschaft wagen, auch wenn die Bauern dann die entsprechenden Parteien versuchen werden abzuwaehlen).

    Soweit mal ein paar „Gedankensplitter“ 🙂

    Ich empfehle im allgemeinen das Buch ‚Economics‘ von Henry Hazlitt.
    http://www.amazon.de/Economics-Wirtschaft-Misswirtschaft-Henry-Hazlitt/dp/3789283118/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1316010360&sr=1-1

    Es gibt einen guten ersten Ueberblick ueber Oekonomische Prinzipien; diese koennen bei dieser Art von Diskussion weiterhelfen.

  9. @Cörv:
    Ich hätte „Müll“ in Anführungszeichen setzen sollen. Ich meinte nicht damit, dass die Lebensmittel nicht mehr genießbar sind, sondern einfach nur, dass sie auf dem Müllberg landen. Das ist ja genau die Absurdität der westlichen Überproduktion, das wir hervorragende Produkte wie Müll behandeln.

    Dass die hungernden Menschen dann erstmal abhängig wären, stimmt vielleicht, aber sie wären wenigstens nicht tot. Und wenn das eine Problem gelöst wäre könnte man sich Gedanken machen, wie man das Andere angeht.

    Es gibt lösbare Probleme, aber eben auch unlösbare Probleme. Und man sollte sehr vorsichtig sein, vermeintlich lösbare Probleme zu lösen, um anschließend festzustellen, dass man ein unlösbares Problem verursacht hat und es kein zurück mehr gibt. Ich empfehle den Artikel Hunger in Afrika – Vom Fressen und der Moral, dort meldet sich in den Kommentaren auch der Autor des Buches „Afrika wird armregiert“ zu Wort, der meine These unterstützt. Die Abhängigkeit der dritten Welt von der Mildtätigkeit des Westens in Form von Entwicklungshilfe und Hungerhilfe, wie sie dir vorschwebt, gehört meines Erachtens zur Kategorie der ganz harten, quasi unlösbaren Probleme, denn wenn sich eine Abhängigkeit erst mal etabliert hat, wird diese mit jedem Tag schlimmer. Und die Hilfen dann einzustellen wird immer weniger möglich, weil das unmittelbare durch die Einstellung der Hilfe verursachte Leid auch immer größer wird, so dass diejenigen, die die Hilfe einstellen würden, sich wie Massenmörder fühlen müssen.

    Offenbar tut sich der Westen seit jeher schwer damit zu akzeptieren, dass er nicht die Welt retten kann und auch gar nicht muss. Denn der Rest der Welt ist nicht auf die Hilfe des Westens angewiesen und kann für sich selber sorgen.

    @Roderich: Willkommen zurück!
    Vielen Dank für die sehr aufschlussreichen Informationen. Deine umfassende Bildung haut mich immer wieder um, alle Achtung. Du wirst noch zu meinem großen Vorbild ;-).

    Dein Buchvorschlag interessiert mich sehr, weil die wirtschaftlichen Mechanismen mich ebenfalls schon lange beschäftigen (ist Profitgier z.B. eine notwendige Folge der freien Marktwirtschaft, oder ist nicht auch eine freie Marktwirtschaft denkbar, in der die Maximierung des Gemeinwohls im Vordergrund steht). Daher steht „Economics“ nun ebenfalls auf der Liste der Bücher, die ich als nächstes lesen möchte, neben „Afrika wird armregiert“.

  10. Cörv sagt:

    Hallo, ich mal wieder,

    @ Roderich: Ich denke auch das sich das Problem erst lösen lässt, wenn man die Korruption und Habgier in den Griff bekommt, auf beiden Seiten.

    Wie gesagt, ich bin was das angeht kein Experte. Aber wie unsere alten Lebensmittel die lokalen Essensindustrien ruinieren sollen kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Warum sollte jemand, beispielsweise in Afrika, der sich Lebensmittel kaufen kann, plötzlich zu unseren alten Lebensmitteln greifen? Erstmal sind die, wenn auch nicht ungenießbar, trotzdem nicht mehr frisch. Außerdem würden das ja wahrscheinlich auch viele Lebensmittel sein, die man dort gar nicht kennt. Ich denke die wüssten mit Schwarzbrot und eingelegten Gurken genausowenig anzufangen, wie wir mit Yamswurzeln.

    Ich denke das ist vergleichbar, mit den Tafeln, die es bei uns gibt. Für die Leute, die es brauchen ist es gut. Aber jeder ist auch froh, wenn er da nicht mehr hin muss. Und pleite gegangen ist von den Tafeln, soweit ich weiß, auch noch keiner.

    Was die lokalen Essensindustrien ruiniert, ist meiner Meinung nach eher, das sie von unseren Billigprodukten, preislich unterboten werden.

    @ Immanuel: An unlösbare Probleme glaube ich nicht ;-). Aber das bin vielleicht auch nur ich. Aber warum sollte es ein unlösbares Problem sein, den hungernden Menschen wieder auf die Beine zu helfen, nur weil man ihnen vorher zu Essen gegeben hat?

    Ich denke, wenn die Menschen zu Essen hätten und nicht mehr ihre ganze Energie für das blanke Überleben einsetzen müssten, dann wären die Voraussetzungen doch viel besser um sich etwas aufzubauen und irgendwann auf eigenen Füßen zu stehen.

    Offenbar tut sich der Westen seit jeher schwer damit zu akzeptieren, dass er nicht die Welt retten kann und auch gar nicht muss. Denn der Rest der Welt ist nicht auf die Hilfe des Westens angewiesen und kann für sich selber sorgen.

    Das der „Westen“ zu viele gute Taten vollbringt, ist glaube ich auch nichts worüber wir uns ernsthaft sorgen machen müssen ;-). Eher im Gegenteil. Ich finde das wir uns immer mehr dahin entwickeln, einfach wegzuschauen, oder dass es nur um eigene Interessen geht.

    Und wenn ich mal einen Blick in die Nachrichten werfe, dann sehe ich da meistens auch nichts wofür wir uns die Weltretter-Plakette anheften könnten. Öl-Katastrophe, Fukushima (OK nicht westlich, aber ein Wohlstandsland), ständig sind überall irgendwelche Überschwemmungen und Katastrophen, ausgelöst vom Treibhauseffekt usw. Wenn, dann können wir uns glaube ich eher Weltkaputmacher nennen.

  11. Immanuel sagt:

    @Cörv: Das Problem, Menschen vom Hungertod zu retten, ohne sie in eine kaum mehr auflösbare Abhängigkeit zu bringen, ist vergleichbar mit einer internationalen militärischen Intervention bei Bürgerkriegen: Kurzfristig mögen weniger Menschen sterben, aber man greift steuernd in Gleichgewichtssysteme ein. So macht man sich selbst regulierende Systeme vom eigenen Eingriff abhängig, und zerstört damit deren Selbstregulierung. Die Rechnung bekommen dann solchermaßen befriedete Länder, wenn sie wieder sich selbst überlassen werden, und das durch den Eingriff künstlich hergestellte Gleichgewicht augenblicklich in sich zusammenbricht. Ähnlich verhält es sich mit dem Hunger …

    Wenn, dann können wir uns glaube ich eher Weltkaputtmacher nennen.

    Ich habe nicht gesagt, dass der Westen ein Weltretter ist. Ich habe gesagt, dass er sich teilweise einbildet, der Rest der Welt wäre auf seine Rolle als Weltretter angewiesen. Bezüglich der Frage, ob Weltretter oder -kaputtmacher habe ich übrigens folgende Meinung:

    Die eine Hälfte der westlichen Welt zählt zu den „Berufs-Egoisten“, die nach dem Motto leben „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht“. Dabei ist es für sie selbstverständlich, den eigenen Vorteil auch auf Kosten anderer zu suchen, tun das teilweise sogar in dem Glauben, wenn jeder wie sie leben würde, wäre die Welt ein Paradies.

    Die andere Hälfte der westlichen Welt zählt zu den „Berufs-Altruisten“, die den durch die freie Marktwirtschaft hervorgerufenen Wohlstand verachten, und der westlichen Welt die Schuld an jeglicher Misere auf der Welt geben, seien es nun radikalisierte Gotteskämpfer oder hungernde Kinder. Dabei leben sie in dem Glauben, dass es von ihrer Initiative abhängt, in der westlichen Welt ein Umdenken herbeizuführen und dem Rest der Welt aus ihrem Schlamassel zu helfen, um das Paradies auf Erden zu schaffen.

    Beide Positionen haben eines gemeinsam: In ihrer einseitigen Sichtweise unterschlagen sie den Schaden, den sie der Welt zufügen, die einen wegen ihrer Rücksichtslosigkeit, die anderen wegen ihrer Mildtätigkeit.

    Zwischen diesen beiden Hälften gibt es noch eine Position des Sowohl-Als-Auchs, diese scheint mir aber in der öffentlichen Meinung relativ selten zu sein: Wir können der Welt schaden und wir können ihr helfen, aber es liegt nicht in unserer Macht, ihr einfach nur zu helfen, ohne ihr dabei zu schaden.

  12. Cörv sagt:

    Wir können der Welt schaden und wir können ihr helfen, aber es liegt nicht in unserer Macht, ihr einfach nur zu helfen, ohne ihr dabei zu schaden.

    Das glaube ich auch, uneingeschränkt sogar.
    Ich glaube nur nicht, dass es für die hungernden Menschen das geringere übel ist, wenn man sie, ohne ihnen zu helfen, einfach sterben lässt.

    Mir konnte noch keiner beweisen, dass es für die hungernden Menschen schlimm ausgehen würde, wenn wir ihnen unsere übrig gebliebenen Lebensmittel überlassen würden.
    Wenn ich es richtig verstanden habe, dann sind die Argumente dafür, dass keiner mehr Lebensmittel kaufen würde, wenn unsere Alten umsonst ausgegeben würden, und dass die Abhängigkeit, die man verursachen würde nicht mehr rückgängig zu machen wäre. Ich glaube das aber nicht (s. meinen vorigen Kommentar). Warum sollte das so sein?

    Ich glaube, wenn man es schlau anstellt, mit dem aufrichtigen Willen zu helfen, dann könnte man viel Gutes mit den Lebensmitteln, die wir übrig lassen, bewirken.

  13. Immanuel sagt:

    Ich glaube nur nicht, dass es für die hungernden Menschen das geringere übel ist, wenn man sie, ohne ihnen zu helfen, einfach sterben lässt.

    Mit diesem Satz hast du natürlich vollkommen Recht. Denjenigen Menschen, denen in ihrer momentan akuten Not wegen langfristiger Bedenken nicht geholfen wird, nützt es überhaupt nichts, wenn man eine langfristig sinnvolle Strategie hat, aber kurzfristig die Menschen nicht vor dem Hungertod retten kann.

    Das spiegelt eine sehr persönliche, individualistische Sichtweise auf das Hungerproblem wider, die ich sehr angenehm finde: Jeder einzelne durch Hunger sterbende Mensch ist einer zu viel, die tatsächliche Zahl ist irrelevant. Man kann auch nicht mit der Zahl der Toten rechnen, eine Aussage wie „lieber sterben nur wenige Menschen als viele Menschen“ ist daher unzulässig (beides ist gleich inakzeptabel), genauso wie die Abwägung zwischen kurzfristigen und langfristigen Opferzahlen (die ich in meiner Argumentation benutze).

    Ich finde es sehr wichtig, sich diese persönliche Sichtweise auf das Leid der Welt angesichts oftmals unvorstellbarer Opfer-Zahlen zu erhalten und nicht von den Menschen zu abstrahieren. Gleichzeitig bin ich aber der Meinung, dass diese Sicht auch ihre Grenzen hat, und zwar in dem Moment, wo man selbst Entscheidungen treffen muss, die Einfluss darauf haben, ob Menschen weiterleben oder nicht. Nehmen wir das Szenario der Titanic, eine klassische Triage: Es gibt mehr Passagiere als Plätze in den Rettungsbooten, es müssen also in jedem Fall Menschen sterben. Wenn man eine ausschließlich persönliche Sicht auf die Dinge einnimmt, muss man sagen: Kein Leben eines Menschen ist dem eines anderen Menschen vorzuziehen (alle Menschen sind gleich), es darf einfach kein Mensch sterben. Das Ergebnis: vollständige Handlungsunfähigkeit. Die Anweisung „Frauen und Kinder zuerst“ scheint eine unzulässige Herabsetzung der männlichen und älteren Passagiere darzustellen, aber sie stellt die Handlungsfähigkeit her und ergibt in einer langfristigen Perspektive Sinn: Die Frauen konnten die Kinder weiter großziehen und so waren weitere Generationen trotz des Schiffsunglücks möglich. Wären die Männer ohne Frauen und Kinder gerettet worden (was aufgrund der körperlichen Überlegenheit im Fall einer unkontrollierten Panik am wahrscheinlichsten wäre), so wären durch das Schiffsunglück nachfolgende Generationen abgeschnitten worden.

    Der vollkommen idealistische Standpunkt lässt sich meines Erachtens nur dann vertreten, solange man nicht selbst entscheiden muss. Sobald entschieden werden muss, muss der Idealismus durch Pragmatismus ergänzt werden, und dann ist es auch legitim es als besser anzusehen, wenn Frauen und Kinder statt Männern gerettet werden, oder es statt 2 Toten nur 1 Toten gibt.

    Unter pragmatischen Gesichtspunkten würde ich daher sagen (und mich würde interessieren, ob du mir darin folgen kannst): Wenn ich langfristig irgendwann alle Menschen eines Volkes vor dem Hungertod bewahren kann, aber dafür kurzfristig den Hungertod von Menschen in Kauf nehmen muss, ist dass ethisch gesehen die bessere Lösung, als wenn ich kurzfristig Menschen vor dem Hungertod rette, aber dadurch keine langfristige Lösung für das Hungerproblem schaffe, und dann ab einem gewissen Zeitpunkt wieder kontinuierlich Menschen immer weiter durch Hunger sterben. Denn in letzterem Fall ist auf eine unbegrenzte Zeit betrachtet die Zahl der Hungertoten unbegrenzt, während im ersten Fall das Hungern irgendwann ein Ende hat.

    Mir konnte noch keiner beweisen, dass es für die hungernden Menschen schlimm ausgehen würde, wenn wir ihnen unsere übrig gebliebenen Lebensmittel überlassen würden.

    Für die hungernden Menschen vielleicht nicht, aber was ist mit den Kindern und Enkeln der hungernden Menschen? Kannst du ausschließen, dass deren Enkelkinder nicht noch viel mehr von unserer Hilfe abhängig sein werden, wenn die Eltern und Großeltern schon nur mit unserer Hilfe überleben konnten?

    Natürlich kann ich dir meine Bedenken aber nicht beweisen, wie du mir auch nicht das Gegenteil beweisen kannst. Ich kann dir (und auch mir) nicht mal beweisen, dass ich existiere, aber du und ich, wir gehen wohl beide trotzdem davon aus, dass es der Fall ist.

    Deshalb meine Frage, weil ich es eben nicht beweisen kann: Ist meine Position und meine Argumentation zumindest für dich nachvollziehbar (du musst sie ja nicht übernehmen)? Wenn ja, habe ich mein Ziel erreicht. Dich überzeugen oder gar etwas beweisen wollte ich nicht. Ich habe sehr viel dadurch gelernt, einfach nur mit dir über das Thema zu reden, selbst wenn ich mich vielleicht nicht ganz verständlich machen konnte.

  14. Cörv sagt:

    Hallo Immanuel,

    das Beispiel mit der Titanik kann ich sehr gut nachvollziehen. Es ist schlimm dass es Opfer gibt, aber sie sind nicht umsonst, weil es Hoffnung gibt. Aber welche Hoffnung gibt es denn für die Hungernden? Oder anders gefragt, was ist die langfristige Strategie mit der man den Hunger beenden will? Korrigier mich wenn ich falsch liege, aber das was wir jetzt machen ist einfach nur wegschauen. Und wenn hingeschaut wird, dann nur um die schlimme Situation der Menschen auszunutzen und seinen Vorteil daraus zu ziehen.

    Deshalb meine Frage, weil ich es eben nicht beweisen kann: Ist meine Position und meine Argumentation zumindest für dich nachvollziehbar (du musst sie ja nicht übernehmen)?

    Da muss ich leider Nein sagen. Aber ich kann dir sagen was mir noch fehlt, um deine Argumente vielleicht nachvollziehen zu können.

    Ich kann dir insoweit folgen, als dass du sagst, es wäre schlimmer die Menschen dort in eine ewige Abhängigkeit zu stürzen. Und das finde ich auch nicht falsch. Mir fallen aber keine Gründe ein warum das zwangsläufig passieren muss. Im Gegenteil, wenn man es mit einer schlauen langfristigen Strategie an die Situation herangeht und den aufrichtigen Willen hat zu helfen, dann halte ich das für sehr unwahrscheinlich.

    Ich kann mir eigentlich nur zwei Fälle vorstellen, wie eine solche unüberwindbare Abhängigkeit zu Stande kommen kann.

    Erstens die Menschen werden in Abhängigkeit gehalten, damit wir wieder unseren Vorteil daraus ziehen können. Das würde ich auch für sehr wahrscheinlich halten, dass das passieren würde.

    Zweitens die Menschen die unsere Lebensmittel bekommen setzen sich einfach auf ihren Hosenboden und bemühen sich nicht mehr eigenständig zu werden, weil für sie gesorgt ist. Und das glaube ich beim Besten Willen nicht, ich hatte dafür ja auch schon Gründe genannt. Aber selbst wenn, dann ist es eigenes Verschulden, wenn die Menschen wieder in Not geraten und wir Ihnen irgendwann nicht mehr helfen können.

    Um deinen Gedankengang besser verstehen zu können, bräuchte ich glaube ich nur einen guten Grund, warum du es für so wahrscheinlich hältst, dass die Menschen in diese unüberwindliche Abhängigkeit gedrängt werden? Weil ich selber finde ihn nicht.

    Um ehrlich zu sein, bin ich schon seit meinem vorletzten Kommentar auf so ein Argument gespannt :-), weil wie gesagt ich bin kein Experte und argumentier hier die ganze Zeit aus dem Bauch heraus und du scheinst dich sehr mit dem Thema auseinandergesetzt zu haben.

  15. Immanuel sagt:

    Hallo Cörv, vielen Dank für den hilfreichen Hinweis, was dir in meiner Argumentation noch fehlt. Ich will versuchen, das fehlende Teil noch zu ergänzen.

    Du hast schon zwei wesentliche Fälle genannt, wie eine unüberwindbare Abhängigkeit zu Stande kommen kann. Hier meine Liste von Gründen, in die deine beiden Fälle eingearbeitet sind (weniger gewichtige Gründe zuerst):

    1. Um des eigenen Vorteils willen wird den hungernden Ländern gezielt Land für die landwirtschaftliche Nutzung abgekauft. Dies geschieht entweder durch Profitmotive von privaten Firmen, oder durch Regierungen, die die eigene Nahrungsmittelversorgung sicher stellen möchten. Das Ganze wird Land Grabbing genannt, und ist der wohl perfideste Grund für eine dauerhafte Abhängigkeit.
    2. Land Grabbing ist nicht illegal (das Land wird schließlich gekauft, nicht geraubt) und kann verhindert werden: durch die Regierungen vor Ort, wenn sie ihr Land schützen wollen. Die Politik in den betroffenen Ländern könnte Land Grabbing ohne weiteres Verhindern. Auch gegen allzu billige Importwaren könnte die Politik ihre Landwirtschaft durch Importzölle schützen. Wo beides nicht geschieht (weil entweder die Politik am Verkauf von Land verdient, oder wissentlich oder unbewusst die Thematik ignoriert wird), sind es in letzter Konsequenz die Politiker der hungernden Länder, die ihre Landsleute im Stich lassen. Die Hungersnot in Somalia ist nicht wegen des Westens so grausam, sondern wegen der politischen Zustände im Land (Somalia ist ein aktuelles Beispiel). Die hungernden Länder werden also „arm regiert“.
    3. Was haben Griechenland und Somalia gemeinsam? Eine gewaltig großes, dauerhaftes Handelsbilanzdefizit. Es wird wesentlich mehr importiert als exportiert, das Kapital fließt ins Ausland, die Investitionen im Land stagnieren, die Verschuldung nimmt zu. Ab einem gewissen Punkt wird dieses Handelsbilanzdefizit zu einem Strudel, einem Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Es ist vergleichbar mit einem Privathaushalt, der über lange Zeit regelmäßig mehr Geld ausgibt, als er einnimmt. Am Schluss drücken ihm alleine schon die Zinszahlungen die Luft ab, von der Tilgung von Schulden kann nur noch geträumt werden. Wenn der Preis für das Stillen von Hunger ein Handelsbilanzdefizit ist (und Hungerhilfe ist die günstigste Form des Imports), dann gilt für die betreffenden Länder rein ökonomisch: Je länger Hungerhilfe geleistet wird, desto schwerer wird die ökonomische Eigenständigkeit erreichbar sein (und damit Unabhängigkeit von Hungerhilfe).

    Der 1. Punkt ist westliche Profitsucht, könnte aber durch wachsame Politiker größtenteils unterbunden werden. Sind diese nicht vorhanden (Punkt 2) und herrschen statt dessen korrupte Eliten, so wird die westliche Profitsucht nicht abgewehrt, und die Hilfsangebote landen auch noch in den Taschen weniger. Aber selbst wenn die Regierungen nicht korrupt sind, werden sie den ökonomischen Gesetzen nicht entkommen (Punkt 3) und müssen dafür sorgen, kein zu großes, dauerhaftes Handelsbilanzdefizit zu bekommen. Tun sie das nicht (unabhängig davon, ob sie korrupt sind oder nicht), werden ihre Länder auf ewig abhängig sein von Ländern mit Handelsbilanzüberschuss (wie z.B. Deutschland, dem ehemaligen „Exportweltmeister“).

    Ich glaube, der dritte Punkt könnte der fehlende Puzzle-Stein sein, um meine Argumentation für dich nachvollziehbar zu machen. Die reine, „kalte“ Ökonomie stellt meines Erachtens das Hauptproblem bei der Hungerhilfe dar, unabhängig von Korruption und Profitsucht.

  16. Cörv sagt:

    Ich weiß nicht, ob ich jetzt alles richtig verstanden habe, aber mir erscheint das alles immer noch nicht richtig.

    Hier mal meine Gedanken dazu:

    Der 1. Punkt ist westliche Profitsucht, könnte aber durch wachsame Politiker größtenteils unterbunden werden.

    Ich glaube immer noch dass der Hunger auf der Welt mitverursacht wird, durch die Profitgier des Westens. Und nur weil es möglich wäre ihn aufzuhalten es aber nicht getan wird, heißt es nicht, dass wir uns keine Vorwürfe zu machen brauchen. Ich meine, wenn man sich wie ein Arschloch verhält, dann ist es keine Entschuldigung, dass die anderen auch Arschlöcher sind.

    Die Hungersnot in Somalia ist nicht wegen des Westens so grausam, sondern wegen der politischen Zustände im Land (Somalia ist ein aktuelles Beispiel). Die hungernden Länder werden also “arm regiert”.

    Klar haben die Regierungen dort auch schuld, aber der Westen trägt doch mit seinen rücksichtsosen Geschäften und seiner Gleichgültigkeit über die Folgen für die Menschen dazu bei.

    Aber selbst wenn die Regierungen nicht korrupt sind, werden sie den ökonomischen Gesetzen nicht entkommen (Punkt 3) und müssen dafür sorgen, kein zu großes, dauerhaftes Handelsbilanzdefizit zu bekommen.

    Dieser Teil ist jetzt schwierig für mich. Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber das Handelsbilanzdefizit käme doch nur zu Stande, wenn die gespendeten Lebensmittel dem einheimischen Lebensmittel-Handel Konkurrenz machen würde. Aber das scheint mir immer noch unlogisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diejenigen die sich Lebensmittel in den armen Ländern leisten können, bei unseren Almosen zugreifen würden. Und sollte dies doch geschehen könnte man die Verteilung der Lebensmittel mit bestimmten Auflagen verbinden.
    Ich halte es für wahrscheinlicher, dass wenn man den hungernden Nahrung gibt, es sie stärkt und sie Kraft und Energie bekommen, um ihre Probleme zu lösen.

  17. Immanuel sagt:

    Ich meine, wenn man sich wie ein Arschloch verhält, dann ist es keine Entschuldigung, dass die anderen auch Arschlöcher sind.

    Ich gebe dir vollkommen recht. Mir geht es mehr um das Verständnis von Kausalitäten und nicht um die Klärung von Schuldfragen oder moralische Verurteilung bzw. Reinwaschung. Anders gesagt: Ja, die westlichen Profitgeier sind Arschlöcher, die den Hunger auf der Welt mitverursachen, aber die Politiker vor Ort sind noch viel größere Arschlöcher, weil sie ihre Landsleute und direkten Nachbarn verhungern lassen, obwohl es ihre Aufgabe wäre, dies zu verhindern. Die westlichen Unternehmen sind von ihrer Zielsetzung und Aufgabe nicht auf Wohlfahrt ausgerichtet, Politiker per Definition schon.

    Dieser Teil ist jetzt schwierig für mich. Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber das Handelsbilanzdefizit käme doch nur zu Stande, wenn die gespendeten Lebensmittel dem einheimischen Lebensmittel-Handel Konkurrenz machen würde. Aber das scheint mir immer noch unlogisch.

    Bei dieser ökonomischen Beurteilung werden wir womöglich nicht zusammenkommen. Ich versuche es aber trotzdem nochmal mit einem anderen Beispiel: dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt. In dieser Analogie gesprochen, sagst du, dass jemand, der auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten könnte, niemals auf dem zweiten Arbeitsmarkt arbeiten würde, und der zweite Arbeitsmarkt ausschließlich dazu dient, die Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Aber genau dieser Übergang ist das Problem: Wenn Firmen mit subventionierten Arbeitskräften arbeiten können, warum sollten sie sich die Mühe machen, die Subventionen los zu werden? Das Ergebnis ist ein subventionierter Niedriglohnsektor, der sich strukturell verfestigt und dem ersten Arbeitsmarkt schlichtweg Konkurrenz macht.

  18. Cörv sagt:

    Ja, aber das ist doch genau das was ich meine. Wenn die Menschen mit Absicht in der Abhängigkeit gehalten würden, was ich, wie gesagt, für den wahrscheinlichsten Fall halte, dann kann man nicht mehr von aufrichtiger Hilfe sprechen. Das heißt dann doch, mit dem was wir wegschmeißen könnte den Hungernden geholfen werden. Es wird aber nicht getan, weil man weiter die schreckliche Situation dieser Menschen ausnutzen möchte.

    Ergo:

    Sind wir also wegen unseres Überflusses für den Hunger von Millionen verantwortlich?

    Ich würde sagen: Ja!

    Ob die Politiker in den jeweiligen Ländern noch größere Arschlöcher sind spielt ja keine Rolle. Wir tragen unseren Teil zu der Situation bei und ziehen die Vorteile daraus.

  19. Immanuel sagt:

    Mein Beispiel mit dem zweiten Arbeitsmarkt würde nur für deine Position sprechen, wenn Privatpersonen per Definition weniger auf ihren eigenen Vorteil bedacht wären, als Unternehmen. Aber es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen Unternehmen und Privatpersonen in dieser Hinsicht, und damit widerspricht mein Beispiel deiner Position: Wenn jemand Essen günstiger oder gar kostenlos bekommen kann, wird er immer die günstigere Alternative wählen, weil er sich mit dem Geld, das er dann mehr hat, andere Sachen leisten kann. Wenn also Menschen erst einmal von der Hungerhilfe leben, werden sie sich nicht so leicht wieder dazu bewegen lassen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ohnehin knappes Geld für etwas auszugeben, was sie kostenlos bekommen können.

    Das heißt dann doch, mit dem was wir wegschmeißen könnte den Hungernden geholfen werden. Es wird aber nicht getan, weil man weiter die schreckliche Situation dieser Menschen ausnutzen möchte.

    Diese moralische Anschuldigung ist noch viel schwerwiegender als das, über das wir bisher geredet haben. Bisher ging es um unterlassene Hilfeleistung, jetzt schreibst du aber, dass es Menschen gibt, die vom Tod anderer Menschen profitieren. Jetzt mal konkret: Wer hat einen Nutzen davon, dass Menschen auf der Welt verhungern? Dein Vorwurf geht meines Erachtens gefährlich in Richtung eines Mordvorwurfs …

  20. Cörv sagt:

    Dein Vorwurf geht meines Erachtens gefährlich in Richtung eines Mordvorwurfs …

    Kann schon sein. Mir wäre das Wort „Mord“ jetzt zwar nicht sofort in den Sinn gekommen, aber vielleicht ist es das. Das ist wahrscheinlich auch eine Frage, wo man für sich die Grenze zieht, was Mord ist. Vielleicht ist Wegschauen manchmal schon Mord. Aber selbst wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass es kein Mord ist, es wäre nur wenig besser. Ich nehme mich selbst ja auch gar nicht raus und ich bin auch nicht moralisch einwandfrei. Aber man muss sich doch trotzdem seine Gedanken machen, sonst wird es nicht besser. Also warum findest du es gefährlich, es mal auszusprechen und die Sache zu benennen?

    Jetzt mal konkret: Wer hat einen Nutzen davon, dass Menschen auf der Welt verhungern?

    Da gibt es bestimmt genug. Ich stell mir da korrupte Machthaber vor, denn ein hungerndes Volk ist leichter zu unterdrücken, oder auch die Wirtschaft, die günstig den Weizen einkaufen kann, der im Land dringend selbst benötigt würde. Es gibt da bestimmt Einiges. Man findet doch überall Beispiele wo Menschen für den eigenen Vorteil ausgenutzt und misshandelt werden, bsp. Foxconn, Panzer nach Saudi Arabien, Joseph Kony,und was gerade in Syrien abgeht. Warum soll es eine so große Überraschung sein, wenn es hier genauso wäre?

    Mein Beispiel mit dem zweiten Arbeitsmarkt würde nur für deine Position sprechen, wenn Privatpersonen per Definition weniger auf ihren eigenen Vorteil bedacht wären, als Unternehmen. […] Wenn jemand Essen günstiger oder gar kostenlos bekommen kann, wird er immer die günstigere Alternative wählen, weil er sich mit dem Geld, das er dann mehr hat, andere Sachen leisten kann.

    Diese Argumentation überzeugt mich leider überhaupt nicht. Wenn dem so wäre, dann würden wir alle nur noch in der Suppenküche bei der Bahnhofsmission essen.
    Klar schauen Privatpersonen genauso auf ihren Vorteil, wie Unternehmen, da gebe ich dir recht. Aber was ist es denn für ein Vorteil, ständig alte Lebensmittel, die du dir wahrscheinlich nicht einmal selbst aussuchen kannst und von denen du das meiste gar nicht kennst, zu essen? Ich glaube, wenn du dir, als vormals Hungernder, erst einmal etwas aufgebaut hast und eigenes Geld verdienst, um deine Familie zu versorgen, dann wachsen mit der Zeit auch deine Ansprüche. Du kommst vielleicht auch in eine höhere soziale Schicht rein, wo es verpönt ist, wenn man zur Armenspeisung geht. Warum soll es dort anders sein, als hier bei uns?

  21. kaengguru sagt:

    Hallo Ihr…

    schön, dass ihr so lebendig diskutiert…. Ich bin leider auch kein experte gerade was die wirtschaftlichen zusammenhänge betrifft, aber ein paar dinge fallen mir auf…

    Menschen unsere überflüssige Nahrung nicht anzubieten, weil sie dann ja in eine abhängigkeit gerieten finde ich unglaublich arrogant… Wenn wir etwas abzugeben haben, können und sollten wir dies anbieten. Den Menschen die Fähigkeit abzusprechen für sich gute Entscheidungen zutreffen ob Sie hilfe annhmen und wie sie damit umgehen, find ich nicht in Ordnung. Es sollte sich niemand als Erzieher der sogennanten Entwicklungsländer aufspielen. Das war auch zu Kolonialzeiten der Fall denen wir übrigens viele schwierige Verhaeltnisse in zB Afrika zu verdanken haben. Das Problem ist natürlich auch wem gibt mensch. Wie unterstützt man Menschen in Diktaturen? Erst einmal sollte aufgehört werden diktatorische Verhältnisse zu unterstützen. DAs ist nämlich in der EU Politik oft genug der Fall gewesen. Gadafi wurde lange hofiert, da er half die europaeischen Grenzen vor den Flüchtlingen zu schützen!!!

    Und natürlich sind im Kapitalismus wenig Menschen an der Bekämpfung des Hungers interessiert. Denn starke Nationen sind Konkurenten auf dem Weltmarkt!!!
    Investoren kaufen mittlerweile haufenweise Laendereien in Entwicklungsländern, die dann für Tierfutteranbau benutzt werden um unseren unglaublichen Billigfleischkonsum zu ermöglichen. Dass schafft wahre Abhängigkeiten!!!!!!

    lg kaenguru

  22. Immanuel sagt:

    Hallo kaengguru,

    herzlich willkommen! Ich freu mich, dass du dich hierher verirrt hast ;-).

    Menschen unsere überflüssige Nahrung nicht anzubieten, weil sie dann ja in eine abhängigkeit gerieten finde ich unglaublich arrogant… Den Menschen die Fähigkeit abzusprechen für sich gute Entscheidungen zutreffen ob Sie hilfe annhmen und wie sie damit umgehen, find ich nicht in Ordnung. Es sollte sich niemand als Erzieher der sogennanten Entwicklungsländer aufspielen.

    Deine Zeilen haben mir ganz schön zu denken gegeben. Arroganz meine ich im Zusammenhang mit Hungerhilfe auch manchmal zu entdecken, aber eher in umgekehrter Richtung: Mir erscheint es arrogant, zu meinen, dass es Länder auf der Welt gibt, die wie kleine Kinder auf unsere Hilfe, insbesondere unsere „Abfälle“, angewiesen sind. Wir sind nicht die einzigen, die Landwirtschaft betreiben können, und eine Kontinent wie Afrika ist durchaus in der Lage, für sich selber zu sorgen.

    Auf der anderen Seite kann ich aber nicht leugnen, dass deine Argumentation mich in Verlegenheit bringt. Wenn ich sagen würde „Wir dürfen nicht helfen, weil mensch in Afrika mit unserer Hilfe nicht umgehen kann!“, dann hättest du sicherlich voll ins Schwarze getroffen. Ich meine aber, dass das zumindest nicht ganz der Fall ist:

    1. Mir geht es nicht darum, anderen zu sagen „wir dürfen nicht helfen“, sondern zu mir wird gesagt „du musst helfen“, denn alles andere wäre angeblich amoralisch. Nach reiflicher Überlegung antworte ich auf dieses „muss“: Es ist gut zu helfen, mensch sollte aber dabei bedenken, dass Hilfe unter gewissen Umständen auch nachteilige Effekte haben kann. Das ist keine pauschale Sache, sondern muss von Fall zu Fall angeschaut werden. Hilfe „um jeden Preis“ (die also nicht den Einzelfall betrachtet, sondern behauptet „Hilfe ist immer gut“) ist daher meines Erachtens mit Vorsicht zu genießen.
    2. Wenn ich durch mein Handeln andere Menschen beeinflusse, sollte ich da nicht meine Handlung auch hinterfragen dürfen, unabhängig davon, wie auch immer kompetent diese Menschen auf meine Beeinflussung reagieren können? Wenn ich einem mündigen Menschen kein verschimmeltes Essen anbiete, obwohl dieser den Schimmel erkennen und darauf verzichten kann, ist das eine Bevormundung dieses Menschen? Wenn ich mich also mit der Frage beschäftige „helfen oder lieber nicht“, und in einem bestimmten Fall zu dem Ergebnis komme, dass die Hilfe schaden würde, muss ich sie dann trotzdem anbieten, nur um niemandem die Fähigkeit abzusprechen, für sich selber gute Entscheidungen treffen zu können?

    Bin gespannt auf deine Antwort!

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