Rezeption von Aussagen (Auflösung)

Ich hatte in einem vorhergehenden Beitrag den folgenden Text vorgestellt:

Ein Vorgesetzter hat einen Mitarbeiter nicht zur Gehaltserhöhung vorgeschlagen. Der Mitarbeiter reichte seine Kündigung ein. Das wurde von den Kollegen bedauert, denn er war allgemein beliebt. Es wurde darüber diskutiert, ob man etwas unternehmen sollte.

Nach 3 Minuten sollte man dann die anschließenden 13 Aussagen mit R (richtig), F (falsch) oder ? (nicht sicher) beantworten:

  1. Der Vorgesetzte hat dem Mitarbeiter eine Gehaltserhöhung verweigert.
  2. Der Mitarbeiter hatte keine Gehaltserhöhung bekommen.
  3. Der Mitarbeiter war darüber verärgert und kündigte.
  4. Der Kündigungsgrund war die nicht gewährte Gehaltserhöhung.
  5. Der Vorgesetzte hatte zwar die Gehaltserhöhung vorgeschlagen, sie war aber abgelehnt worden.
  6. Der Weggang des Mitarbeiters wurde von den Kollegen bedauert.
  7. Die Kollegen diskutierten, ob man gegen das Vorgehen des Vorgesetzten etwas unternehmen sollte.
  8. Die Kollegen unterhielten sich mit dem Mitarbeiter.
  9. Der Vorgesetzte war an der Diskussion der Kollegen nicht beteiligt.
  10. Es handelt sich um einen erfahrenen und beliebten Mitarbeiter.
  11. Der Vorgesetzte kündigte dem Mitarbeiter.
  12. Die Kollegen bedauerten, dass der Mitarbeiter keine Gehaltserhöhung bekommen hatte.
  13. Der Mitarbeiter war allgemein beliebt, und es wurde diskutiert, ob man etwas unternehmen solle.

Vielen Dank an alle, die ein Ergebnis abgegeben haben! Die Ergebnisse sehen tabellarisch folgendermaßen aus:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Immanuel ? ? ? R F R R ? ? ? F ? R
Matthias F R ? ? ? ? ? ? ? ? F ? ?
Julia F R R R F R F F R F F F R
Dennis F R ? F ? ? F ? ? F F F R
Roderich F ? ? ? F R ? ? ? ? F ? R
Walle ? ? ? ? ? R R R ? F F F R
Musterlösung ? ? ? ? F F ? ? ? ? F ? R

Folgende offensichtlichen Feststellungen kann man treffen:

  1. Niemand hat alle Aussagen richtig eingeschätzt.
  2. Die einzige Aussage, die alle richtig eingeschätzt haben, ist Aussage 11: Der Vorgesetzte kündigte dem Mitarbeiter.
  3. Bei Abweichungen von der Musterlösung gibt es dennoch eine hohe Übereinstimmung bei den Ergebnissen (z.B. Aussage 1 und 2).

Mich würde interessieren, was ihr über diese Fragen denkt:

  1. Ist die Musterlösung überhaupt richtig?
  2. Handelt es sich um einen gewöhnlichen Text, oder ist er besonders präpariert worden, um das Ergebnis herbeizuführen?
  3. Was bedeutet das Ergebnis für Verwirrungen im normalen Kommunikationsalltag?
  4. Was bedeutet das Ergebnis für Texte mit Wahrheitsanspruch?

Ich bin gespannt!

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6 Kommentare zu Rezeption von Aussagen (Auflösung)

  1. gabalis sagt:

    1. Das ist eine gute Frage. Man könnte z.B., meine ich, die dritte Aussage mit „falsch“ beantworten. Die Aussage ist teilweise richtig, aber teilweise auch von unbekanntem Wahrheitsgehalt. Das Problem entsteht dadurch, dass man zwei Aussagen in dieselbe Gesamtaussage hineinpackt, von denen man die eine beurteilen kann und die andere nicht. Wenn eine Aussage falsch ist, dann ist die ganze Aussage falsch. Aber da die Aussage, die falsch sein könnte, diejenige ist, die man anhand der gegebenen Informationen nicht beurteilen kann, und möglicherweise den Wahrheitsgehalt der Gesamtaussage verfälschen könnte, entscheidet man sich für die Antwort „?“. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen ist die Gesamtaussage an sich jedoch falsch. Es steht nicht da, dass der Mitarbeiter verärgert war, und schon gar nicht, dass eine etwaige Verärgerung in Verbindung mit der Kündigung stand.

    2. Der Text sieht harmlos aus, aber ich habe ähnliche bei Managementkursen gesehen, wo es darum ging, die Fakten zu kennen. Um welches Ergebnis herbeizuführen – das Gesamtergebnis? Wohl möglich.

    3. Das Ergebnis zeigt, dass Kommunikation zu einem gut Teil auf Interpretation beruht, von der wiederum ein Teil falsch ist oder wenigstens sein könnte. Allerdings kommunizieren die meisten Menschen nicht so, dass sie ständig nur eindeutig wasserdichte Aussagen machen, die keinerlei Interpretation zulassen. Deswegen entstehen Tratsch und Gerüchte.

    4. Das bedeutet, wenn die Texte nicht wasserdicht verfasst werden, dass sie zwangsläufig interpretiert werden. Und eventuell auch, dass sie selber auf – mitunter falsche – Interpretationen von anderen Informationen beruhen.

  2. Immanuel sagt:

    @gabalis:

    Zu 1: Aussage 3 sind zwei durch eine Konjunktion verbundene Aussagen, wobei selbst bei dieser Konjunktion nicht klar ist, ob sie einen kausalen Zusammenhang („er kündigte, weil er verärgert war“), einen zeitlichen Zusammenhang („erst war er verärgert, später kündigte er“) oder einen völlig neutralen Zusammenhang begründet, der überhaupt nichts über das Verhältnis zwischen Verärgerung und Kündigung aussagt, außer das beide irgendwann eingetreten sind. Die Aussage „der Mitarbeiter war verärgert“ ist übrigens nicht falsch, sondern nicht entscheidbar (wie es die Informatiker nennen). Damit ist eine Aussage richtig, eine andere nicht entscheidbar, und die Konjunktion aus beiden daher nicht entscheidbar, also korrekter Weise: ?

    Zu 2: Sicherlich wurde der Text konstruiert, aber ich sehe nicht, dass er irgendwelchen allgemeinen Regeln der Sprache widerspricht. Daher würde ich sagen, dass es ich um einen völlig gewöhnlichen Text handelt.

    Zu 4: Woraus schließt du, dass Texte überhaupt wasserdicht verfasst werden können? Ich kenne keine wasserdichten Texte, außer die Programme die ich schreibe. Da ist nie das Problem, dass sie vom Rechner falsch verstanden werden, sondern nur meistens das Problem, dass das, was ich sage, einfach Blödsinn war ;-). Bei natürlicher Sprache kann man eigentlich nie sicher unterscheiden, ob ein Missverständnis schon beim Sender existierte, oder erst durch das Medium entstanden ist.

  3. gabalis sagt:

    @ Immanuel

    Ich würde trotzdem sagen, dass auf der Basis der zur Verfügung stehenden Informationen die Verknüpfung der beiden Aussagen zu einer Gesamtaussage auch die wahre Aussage (Kündigung) relativiert, wenn nicht sogar verfälscht, und zwar auf tendenziöse Weise. Die andere Aussage ist, auf Basis der Angaben, frei erfunden: auf Basis dieser Angaben stimmt es eben nicht, dass der Mitarbeiter verärgert war.
    Natürlich wäre es in der realen Welt anders möglich und denkbar. Der Mitarbeiter hätte z.B. auch vorher seinem Vorgesetzten sagen können, dass er kündigen würde, und hätte deswegen keine Gehaltserhöhung bekommen.

    Zu 4. Da interpretierst du aber etwas hinein: ich habe nur gesagt: wenn … Als ich das schrieb, habe ich nicht darüber nachgedacht, ob es wasserdichte Texte gibt oder nicht. Ich wollte nur sagen, man muss sehr aufpassen, was und wie man etwas sagt, will man richtig verstanden werden. Aber das ist wohl eine Binsenweisheit. Und auch dann wird man interpretieren … (meistens um dem Sprecher bzw. Verfasser einen Strick daraus zu drehen – siehe Sarrazin, oder auch den Vorgesetzten). Insofern kann eine „wasserdichte Aussage“ nur ein Ziel sein. Ich denke z.B. an Pressemitteilungen von Firmen: die Firma ist bemüht, sich in einem möglichst günstigen Licht darzustellen, und formuliert entsprechend. Die Zeitungsmacher ahnen, dass das nicht die ganze Geschichte – oder gar die ganze Wahrheit – sein kann, ziehen ihre Schlüsse (Interpretation) und kommentieren die Darstellung entsprechend. Hier geht es aber nicht um die wasserdichte Aussage als solche, sondern darum, dass man die andere Seite so gut überzeugt oder befriedigt, dass sie keine unangenehmen Fragen stellt.
    Vielleicht stimmt eher der Umkehrschluss: wenn Texte interpretiert werden, dann sind sie nicht wasserdicht. Das gilt wohl für jeden Text. Aber wer ist in der Lage, so zu sprechen/schreiben, dass den Gehirnwindungen von allen 6,5+ Mrd. Menschen Rechnung getragen wird? Somit geht es darum, den Interpretationsspielraum soweit wie möglich einzugrenzen.

  4. Immanuel sagt:

    @gabalis

    Die andere Aussage ist, auf Basis der Angaben, frei erfunden: auf Basis dieser Angaben stimmt es eben nicht, dass der Mitarbeiter verärgert war.

    Wenn ich dich richtig verstehe (was aufgrund der Unschärfe der natürlichen Sprache gar nicht einfach ist), dann sagst du aus, dass es falsch ist, bei einer unentscheidbaren Aussage zu behaupten, sie sei wahr. Legt man dieses Verständnis zu Grunde (was jeder unterschiedlich macht und man es demnach nicht als falsch oder richtig bezeichnen kann), kann man die dritte Aussage („Der Mitarbeiter war darüber verärgert und kündigte.“) tatsächlich als falsch bezeichnen, und nicht wie in der Musterlösung als unentscheidbar. Eine weitere Erläuterung des Sachverhalts würde ich gerne vermeiden, weil er schon dabei ist, meine intellektuellen Fähigkeiten zu sprengen (was darin liegt, dass es sich um Reflexion über Sprache handelt, und die sprengt im Nullkommanichts jedes Gehirn).

    Da interpretierst du aber etwas hinein

    Wer nicht interpretiert (z.B. ein Computer), kann natürliche Sprache nicht verstehen, insofern interpretiere ich bei jedem Satz, den ich lese. Für mich war allein der Begriff „wasserdichter Text“ ein Indikator, dass du anscheinend davon ausgehst, dass es solche Texte gibt. Ich glaube nicht, dass es solche natürlich-sprachigen Texte gibt, insofern halte ich einen „wasserdichten Text“ für ein Paradoxon.

    Wie du richtig bemerkt hast, kann es also niemals darum gehen, „wasserdicht“ zu schreiben, sondern man kann nur versuchen, den Text so zu gestalten, dass ihn möglichst viele Menschen verstehen können. Je schwieriger der Inhalt eines Textes aber ist, desto geringer wird automatisch die Zahl derer, die ihn so verstehen können wie der Autor. Und das gilt unabhängig von den sprachlichen Fähigkeiten des Autors. Insofern ist es nachvollziehbar, dass es z.B. im Judentum so schwierige Texte gibt, dass man sie nur einem kleinen Kreis von Menschen mit herausragenden Fähigkeiten zumutet, weil sie für den Durchschnittsmenschen wie dich und mich fast mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit völlig unverständlich wären und uns durch Missverständnisse mehr schaden als nutzen würden.

  5. Roderich sagt:

    Frage 6 hatte ich inkorrekt beantwortet, aber die Musterloesung scheint auch inkorrekt.
    „6. Der Weggang des Mitarbeiters wurde von den Kollegen bedauert.“
    Musterloesung = F
    Es muesste sein = „?“ (Dennis und Matthias hatten also recht).

    Denn schliesslich haben die Mitarbeiter die Kuendigung bedauert. Also kann es durchaus sein, dass sie auch seinen WEGGANG bedauern.
    Man kann also nicht sagen, 6. sei falsch, man muss sagen: man weiss es nicht.

  6. Immanuel sagt:

    @Roderich: Ich denke, man kann Aussage 6 durchaus als falsch ansehen. Die Argumentation dafür könnte wie folgt aussehen: Die Aussage, dass die Kollegen etwas bedauerten, ist offensichtlich richtig („Das wurde von den Kollegen bedauert“). Die Frage ist nur, was das Demonstrativpronomen am Anfang des Satzes meint. Also stellt man die Frage: Was bedauerten die Kollegen? Die Antwort von Aussage 6 ist: Den Weggang des Mitarbeiters. Die Antwort des Textes: Die Einreichung der Kündigung. Insofern ist Aussage 6 in Bezug auf die Frage, was bedauert wurde, falsch.

    Deine Argumentation ist allerdings genauso legitim, man könnte aber im Sinne von Ockhams Rasiermesser sagen, dass sie sich mehr als nötig ins Spekulative begibt. Wendet man das besagte Rasiermesser nicht an (was man ja nicht muss), könnte man z.B. auch sagen, dass Aussage 11 („Der Vorgesetzte kündigte dem Mitarbeiter“) nicht entscheidbar ist. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Mitarbeiter am Tag zuvor seine Kündigung schriftlich per Post aufgegeben hat, und am nächsten Morgen ihm der Vorgesetzte unabhängig davon kündigte, bevor er die Kündigung des Mitarbeiters erhalten hatte.

    Wäre es jetzt z.B. aus irgendwelchen Gründen für einen Menschen wichtig, dass der Vorgesetzte den entscheidenden Schritt für die Kündigung getan haben muss, so könnte er in einer Art „Verschwörungstheorie“ den Text so auslegen (ohne ihm direkt zu widersprechen), dass er seine Sichtweise aus dem Text herauslesen kann.

    Mich würde von deiner Seite interessieren, was für dich die vielfachen Interpretationsmöglichkeiten für die sichere Wahrheitserkenntnis aus natürlich-sprachlichen Texten (wie ja auch die Bibel einer ist) bedeutet.

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